Wer die Chemnitzer „Walküre“ des von weiblich geführten Teams inszenierten Rings in Erinnerung hat, hat beim neuen „Otello“ in Leipzig ein Déjà-vu. Zumindest, was den dramaturgischen Ehrgeiz und die szenische Machart der niederländischen Walküre-Regisseurin Monique Wagemakers betrifft. Die hat sich jetzt Verdis, an der Mailänder Scala 1887 uraufgeführten Opernwurf aus der reifen Phase seines Schaffens vorgenommen. Zum Glück für die Nachwelt hatte der große Italiener sich überreden lassen, noch einmal einen Shakespearestoff zu veropern. In einigen Sequenzen blitzt denn auch schon mal sein „Falstaff“ auf, der sein wirklich letztes Wort in Sachen Oper wurde.
Im „Otello“ aber wütet der kreative Geist des Komponisten ungebrochen und mit atemberaubend meisterhafter Perfektion. Neben allem historisch folkloristischen Zierrat ist es ein exemplarischer Blick in den Abgrund Mensch, wie bei es eben bei einem relevanten Kunstwerk immer der Fall ist.
Dabei ist die Frage, ob der Titelheld schwarz oder nicht schwarz, Mohr oder Maure ist, eigentlich zweitrangig. Heutzutage darf es, warum auch immer, um Gottes Willen kein schwarz angemalter Weißer oder Nichtschwarzer sein. Dieses Zeitgeistproblem lässt Wagemakers links liegen und nimmt mit feministischem Ehrgeiz die Rolle der Frau, speziell Desdemonas, ins Visier. Mit einem programmatisch von Anke Stoppa gesprochenen Prolog aus Christine Brückners „Wenn Du geredet hättest, Desdemona. Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen.“, dessen Titel der Inhalt ist.
Dazu passt das Finale. Nachdem Otello (dieses Mir-gehört-die-Frau-Mannsbild ohne jede Selbstreflexion schlechthin) sie erwürgt hat und selbst, nicht an einem Messerstich, sondern an einem Herzinfarkt verblichen ist, erhebt sich seine unschuldig getötete Frau und schreitet, allerdings ohne ihren Gatten eines Blickes zu würdigen, von dannen. Genau durch die Öffnung im Hintergrund des abstrakten, sich allem Konkreten verweigernden Bühnenraum von Dirk Becker, durch den kurz vorher der als Drahtzieher der Katastrophe entlarvte Jago fliehen konnte. Ein Abgang in die gleiche Richtung, wohl mehr zufällig? Einfach so. Oper eben.
Zwischen dem feministischen Statement zum Auftakt und Desdemonas als Triumph gemeinten Abgang wird deren Gesicht etliche Male auf die wehenden Vorhänge (offenbar ein Markenzeichen der Regisseurin) projiziert. Ansonsten dominiert eine eher schmerzfrei konventionelle Personenregie, die vor allem durch das Treiben Jagos bestimmt wird.
Mit einer Ausnahme: gleich zum Auftakt verschießt die Regisseurin das Feuerwerk der großen Bilder auf einmal: mit einem fantastisch choreografierten Sturmchor, bei dem man nicht nur sieht, was man hört, sondern auch das, was die Regie meint, einen Aufruhr der Seelen und die dräuende Katastrophe. Die ganze Tragik dieser besonders sinnlos ermordeten Frau eben. Hervorragend nicht nur hier, die von Thomas Eitler-de Lint einstudierten Chöre. Andrea Schmidt Futterer hat sie alle ziemlich zeitlos und gleichförmig kostümiert. Die Masse Mensch halt. Im Programmheft kann man nachlesen, dass es sich um japanischen Hosenröcken für Herren (Unisex-Hakamas) handelt. Bei den Protagonisten wehen die klassischen langen Opernmäntel.
Dass man Desdemona nicht „mit Recht“ ermorden dürfen sollte, selbst wenn sie was mit Cassio gehabt hätte, wäre die eigentlich wichtigere Anmerkung einer gegenwärtigen Interpretation, als die „richtige“ Hautfarbe des Titelhelden. Aber sei’s drum. Szenisch gelingt es dem eher abstrakt ausgetragenen Kammerspiel um Traumata, Unbeherrschtheit und den durchschlagenden Erfolg eines entschlossenen Intriganten nicht, wirklich Anteilnahme zu wecken. Und über den Erfolg, den Jago mit seiner gefakten Wirklichkeit hat, wundert man sich heute längst nicht mehr.
Es passt zu dieser Inszenierung, dass der Jago des Weißrussen Vladislav Sulimsky vokal den Vogel abschießt. Er stellt seine mühelose Kraft und sein edles Timbre in die Dienste der Opernabgründe, nicht nur im atemberaubenden Credo. Er füllt auch mit seinem Habitus per se den Raum, wenn er die Szene betritt. Dieser Jago ist ein Ereignis. Die Desdemona der rumänischen Sopranistin Iulia Maria Dan steht dem, vor allem mit ihren imponierenden Piani und der aufrauschenden, sich frei entfaltenden Emphase, in nichts nach. Als Otello hat der Spanier Xavier Moreno schon etwas Mühe, mitzuhalten, bewältigt die Titelpartie aber – zumindest vokal – im Ganzen gut. Alle weiteren Rollen sind handverlesen besetzt. Das gilt für Ulrike Schneider als würdevolle Emilia, für Matthias Stier als gebeutelten Cassio, aber auch für die kleineren Partien von Montano (Joan Vincent Hoppe) über Rodrigo (Alvaro Zambrano) bis zum Gesandten Ludovico Randall Jakobsh. Christoph Gedschold und das Gewandhausorchester sorgen im Graben auch für das aufwühlende Orchestererlebnis, das Otello braucht, er lässt es krachen, wenn es sein muss, findet aber auch zu den leisen Tönen, wenn die gebraucht werden. Sie Protagonisten auf der Bühne hat er jedenfalls so oder so im Blick. Am Ende jubelt das Premierenpublikum. In der Oper geht das schon mal, auch wenn das Böse triumphiert.