Max Emmanuel Cencic glänzt in bei den Händelfestspielen in Karlsruhe als Sänger und Regisseur von Händels selten zu erlebenden „Arminio“. Joachim Lange hat sich die Premiere angesehen und war einer gelungenen „Fälschung“ auf der Spur.
Es stimmt zwar, dass Georg Friedrich Händels „Arminio“ seit der Londoner Uraufführung 1737 so gut wie von der Bildfläche verschwunden ist und seither nur magere acht Mal neu inszeniert wurde. So kann man es jedenfalls im detaillierten Aufführungsregister des Händelhauses in Halle nachlesen. Aber die Vorgängerproduktion der aktuellen Karlsruher Version gab es immerhin vor zwei Jahren bei der großen Festspielschwester in Händels Geburtsstadt. In Halle hatte Nigel Lowery für einen mittleren szenischen Aufreger gesorgt – die Zeiten, in denen ein Peter Konwitschny am Beginn seiner Karriere einige Händelopern in die Gegenwart katapultiert hatte, sind schon lange her. Musikalisch gab es an dem auch in Halle das erste Mal szenisch zu erlebenden „Arminio“ nichts zu deuteln, doch der Brite lud die vom Librettisten Antonio Salvi ziemlich frei erzählte Geschichte, in der der germanische Arminius und der römische Varus aufeinandertreffen, so mit einer Dosis Wagner, Mauerfall und kulturpolitischen Fussnoten auf, wie man es in Halle lange nicht erlebt hatte.
In gewissem Sinne historisch gefälscht hat auch der Counterstar Max Emmanuel Cencic, der jetzt nicht nur die Rolle des Arminio sag, sondern sie sich das erste Mal mit der des Koproduzenten und Regisseurs verband, außerdem selbst auf den Leib geschneidert hat. Auch er hat gefälscht, wenn man die Vorlage, so wie sie dasteht, als Maß der Dinge nimmt. Gefälscht hat er allerdings so perfekt, dass der krude Libretto-Mix aus Liebes-Hin-und-Her und Haupt- und Staatsaktion plötzlich plausibel und überzeugend wirkt.
Als Sänger fühlt sich der Counter Cencic in der Rolle des bedrängten, dabei standfesten, beinahe geköpften, dann aber siegreichen Herrschers mit seiner Tessitura so wohl, dass es ein Hochgenuss ist, seinen dacapo-Arien zuzuhören! Da sind großer Atem mit Flexibilität gepaart, wunderbares Timbre mit Gestaltungspotential. Durchweg und rundum souverän ist Cencic der Mittelpunkt. Er singt die anderen aber nicht an die Wand oder spielt sie in den Schatten. Der eine große Vorzug dieser Inszenierung ist ein ausgewogenes Ensemblespiel, bei dem jeder mit seinen Stärken glänzen kann. Layla Claire etwa als wunderbar geschmeidige Ehefrau des Titelhelden Tusnelda. Oder Pavel Kudinov als deren kultiviert eloquenter Vater Segeste, der im Stück den Verräter gibt und die Seiten wechselt. Der Counter Vince Yi ist sein Bühnensohn Sigismundo, der so mit Arminios Schwester Ramise (wunderbar mezzowarm auf der Dauerflucht in den Alkohol: Ruxandra Donose) an seiner Seite zwischen die Fronten gerät, dabei aber mit einer wunderbaren Bravourarie glänzen kann (wenn auch mit einer gewissen Schärfe in der Höhe nicht ganz so bravourös wie sein Kollege in Halle …). Auf der Seite der Eroberer um Varus (Juan Sancho) gibt es mit dem vokal beweglichen Owen Willetts noch einen weiteren Counter - die Besetzung dieses mit Cencics „Parnassus Arts Productions“ koproduzierten „Arminio“ bewegt sich im oberen Feld des heute Möglichen. Und Üblichen. George Petrou am Pult der Musiker des griechischen „Armonia Atenea“ stetzt dabei mehr auf kammermusikalische Zurückhaltung und Feinzeichnung als auf betont barocken Furor.
Überzeugend ist die Personenregie Cencics. Der kitzelt zwar die Dramatik heraus, auch wenn eigentlich gar nicht viel passiert. Dabei übertreibt er aber nicht einfach auf den Effekt hin, selbst wenn es anzüglich oder übergriffig wird, also Folter angedeutet oder vergewaltigt wird. Selbst den (meistens ja etwas peinlich hingetrotteten) Aufmarsch Bewaffneter kriegen sie hin. Eine Klasse für sich ist der szenische Rahmen, für den Ausstatter Helmut Stürmer (bei den Kostümen unterstützt von Corinne Gramosteanu) sorgt. Insgesamt funktioniert die Geschichte so schlüssiger als bei Händel selbst. Denn das Ganze ist nicht eins zu eins, aber dem Sinne nach, in eine Zeit um die Französische Revolution und die napoleonische Expansion herum verlegt. Der Terror der Jakobiner dämmert auf denn vor der üppigen, stimmungsvoll verwitterten, durch Stellwände angedeuteten Orangerie im atmosphärisch düster projizierten Schlosspark sind ein halbes Dutzend abgeschlagene und Häupter aufgespießt.
Der Germanenanführer wird zu einem französischen (oder in der Nachbarschaft bedrängten), barocken Herrscher (könnte durchaus Ludwig heißen) nebst Frau (erinnert an Marie-Antoinette) und Kindern – allesamt in der luxuriösen Roben- und Perückenpracht ungefähr dieser Zeit. Aus den einfallenden Römern um Varus, nebst Verräter und Hilfstruppen, werden die napoleonisch uniformierten, blutrünstigen Jakobiner. Mit ausgelebter Vorliebe für Terror und Guillotine. Am Ende behält der Herrscher noch einmal die Oberhand, sorgt für ein inszeniertes Happyend und hat beim abschließenden Festmahl eine goldene Maske für jeden bereitgelegt. So nach dem Motto gute Miene zum bösen Spiel, oder: immer Haltung bewahren. Aber er schickt (anders als er es mit großer Geste ankündigt hat und es bei Händel vorgesehen ist) den Verräter doch aufs Schafott. Was nur wir sehen, aber nicht seine kleine Tafelrunde. Mit diesem gebrochenen liteo fine dämmert eine Ahnung davon auf, wie sein Sohn dereinst enden wird, wenn die Anderen die Oberhand behalten. Damit hat diese ästhetisch höchst stimmige Inszenierung am Ende auch noch eine politische Pointe, die unter die Haut geht.