Im Bremerhavener Stadttheater dreht sich eine runde Bühne, um sie herum sitzen hautnah gegenüber den Darstellern die Zuschauer, an einer Seite das 18köpfige Orchester. In der Oper „Der goldene Drache“ von Peter Eötvös laufen mehrere Geschichten ab, verdichtet zu 21 skizzenhaften oft nur angedeuteten Miniaturen.
Da ist der illegale Chinese, dem seine Kochkollegen im Thai-Imbisslokal „Der goldene Drache“ mit einer riesigen Zange den schmerzenden Zahn ziehen, an dessen Wunde er verblutet. Da ist der Großvater, der so gerne noch einmal jung wäre und sich an der Enkelin vergreift. Da ist der junge Mann, den das Entsetzen packt, als die Freundin ihm ihre Schwangerschaft gesteht. Da ist die Ameise, die die Grille als Prostituierte ausbeutet, weil die kein Fressen für den Winter gesammelt, sondern nur getanzt hat. Da ist die Stewardess, die den blutigen Zahn in ihrer Suppe findet und ihn ebenso ins Meer wirft wie die Köche den kleinen Chinesen. Eine raffinierte Dramaturgie, mit der es dem Autor Roland Schimmelpfennig gelingt, immer mehr die Ebenen miteinander zu verzahnen, letztendlich ein einziges Thema daraus zu machen, wie man es sich aktueller nicht vorstellen kann.
Es geht um Ausbeutung, um Abhängigkeit, um Folter und Egoismus, alle diese Menschen hängen irgendwie voneinander ab, tun sich Fürchterliches an. Vor zwei Jahren ist die Oper des 1944 geborenen Ungarn erfolgreich in Frankfurt uraufgeführt worden, meist zeigt sich nach der zweiten Inszenierung ihre Lebensfähigkeit. Die könnte sie haben, so doppeldeutig, gleichzeitig poetisch, realistisch, grotesk, parodistisch, so leichtfüßig und gleichzeitig mit überrumpelnder Tiefenschärfe kommt die kluge Inszenierung des Intendanten Ulrich Mokrusch daher. Niemals läuft sie Gefahr, den moralischen Zeigefinger zu erheben, niemals aber läuft sie auch Gefahr, zu leichtfertig über verdammt verstörende Dinge rüberzurubbeln.
Mokruschs sauber reflektierende Handschrift besticht durch die Fähigkeit, reine Theaterlust nahezu perfekt mit politisch-ästhetischer Stellungnahme zu verbinden, ein Können und eine Haltung, die seit 2010 – dem Beginn seiner Intendanz – dem Theater zahlreiche Preise eingebracht hat.
Das geht natürlich nicht im Alleingang. Das Ensemble zeigte sich in dieser Aufführung von seiner besten Seite. Es wird richtig gut gesungen – alle 18 Partien sind höchst virtuos und anspruchsvoll komponiert – und zielgenau und konsequent mit einer Körpersprache verbunden, die einem einen ungemein unterhaltsamen Theaterabend spendiert, an dem man am Ende doch ins Nachdenken kommt. Da ist Regine Sturm als kleiner Chinese, die in den letzten beiden Bildern einen erschütternden Requiem-Ton erreicht, bevor sie in den Himmel zu unzähligen Lampions gezogen wird. Da sind der Tenor Thomas Haaks und der Bariton Filippo Bettoschi, die stimmgewaltig ihre namenlosen Rollen zaubern, da ist – als Gast – die Mezzosopranistin Patrizia Häusermann, die ihren vielen Rollen ebenso unterschiedliche Nuancen abzuringen vermochte wie der Tenor Thomas Burger. Auch die schnelle und einfallsreiche Umfunktionierung der Requisiten – wie der Wok als Panzer der Ameise, wie der Brotkorb als das Hütchen der Stewardessen, wie die Reissäcke des Lokals als Vorrat der Ameise – unterstützen das Konzept (Timo Dentler und Okarina Peter).
Die Uraufführung vor zwei Jahren in Frankfurt hatte Eötvös selbst geleitet (mit dem Ensemble Modern). Die bläser- und schlagzeuglastige Musik entsteht aus den Rhythmen des Gemüseschneidens in der Küche, streift fernöstliche und folkloristische Töne, wahrt den grundsätzlichen Primat der Stimme in der Oper, assoziiert Anleihen an historischer Musik und führt immer mehr zu expressiver Empathie, ohne jedoch verbrauchte Ausdrucksmuster zu bedienen (obschon man die erlösende Apotheose auch hart an der Grenze empfinden kann). Die Premiere wurde begeistert aufgenommen: Eötvös‘ neunte Oper könnte ein Repertoirestück werden wie seine „Drei Schwestern“ (1998) auch. Die nächsten Aufführungen: 10., 15. und 19. Juni.