Bei den Salzburger Festspielen trübte ausgerechnet die „Zauberflöte“ die eindrucksvolle Premierenbilanz des Opernspielplans. Zumindest die Kritik war nicht begeistert. Andererseits gab es für Romeo Castellucci und seine rätselhaft bilderstarke „Salome“ samt ihrer verbleibenden Restgeheimnisse Jubel von allen Seiten. Aus dieser Festspiel-Ungleichung machte Peter de Caluwe jetzt in Brüssel am La Monnaie eine Stagione-Gleichung: Zauberflöte plus Castellucci. Die ging schon deshalb auf, weil der Italiener – ästhetisch gesehen – gleich zwei Inszenierungen ablieferte, die beide in ihrer Radikalität auf ganz unterschiedliche Art verblüfften.
Es spricht für die Souveränität dieses Gesamtkunstwerkers, sich nicht davon irritieren zu lassen, dass er mit dieser Produktion das neue Onlineangebot „Saison ARTE Opera“ des europäischen Kultursenders einleitet. Denn weder der erste noch der zweite Aufzug scheren sich um besondere Bildschirmtauglichkeit. Für solche Zwecke gäbe der entfesselte Zirkus aus Salzburg sicher mehr her. Wie auch immer: am 27. September haben La Monnaie, Mozart und Castellucci das Privileg der ersten Nacht einer europäischen Online-Opernspielzeit, an der sich 22 Opernhäuser aus 14 Ländern beteiligen werden – als Livestream frei verfügbar und in sechs Sprachen untertitelt!
In Brüssel beginnt es nüchtern, noch vor der Musik. Ein Mann wirft ein halbes Dutzend Mal nach einer im Dunkeln schwebenden Leuchtstoffröhre. Als er endlich trifft, zerbricht das Licht in zwei Teile. Geheimnisvolle Gestalten in Schutzanzügen und mit Gasmasken falten wie beim Kinderbasteln einen Bodenbelag zusammen und tragen das Resultat wie einen Sarg davon. Die archaische Teilung des Einen in zwei Teile als eine Art Initiationsakt für das, was dann folgt? Das ist vom Einsetzen der Musik bis zur Pause eine nie gesehene Orgie der Symmetrie. Die Sänger und Tänzer in der Adelsmode der Entstehungszeit, in himmlisch wolkigem Weiß. Wobei die drei Damen (Tineke van Igelgem, Angélique Noldus, Esther Kuipere) und die drei Knaben wegen eben dieser Symmetrie um jeweils einen stummen, nur den Mund bewegenden Akteur ergänzt und die anderen Protagonisten durch ebensolche Doubles verdoppelt werden. Nur der Königin der Nacht (koloratursicher: Sabine Devieilhe) ist das Singuläre einer Gestalt vorbehalten. Bei ihrem ersten vokal und optisch großen Auftritt „Oh zittre nicht, mein lieber Sohn!“ bewegen sich dafür zu ihren Füßen spiegelbildlich zwei Kokons, aus denen sich dann zwei menschliche Gestalten winden. Das gehört zu den vielen verblüffenden Details, die Castelluccis überschießender Phantasie entspringen.
Auf den ersten Blick ist der ganze erste Aufzug ein Crescendo aus immer üppiger werdenden singenden Tableaus, bei denen nicht immer sofort klar wird, wer gerade wirklich singt. Dass Castellucci als sein eigener Ausstatter eine Bühne zu füllen vermag, hat er in Brüssel mit dem wohl dichtesten Urwald der Operngeschichte für den ersten Aufzug des „Parsifal“ schon einmal eindrucksvoll demonstriert. Diesmal ist es die eskalierende Opulenz barocker Skulpturen, Ornamente und Tableau vivants. Dazu grandiose Balletteinlagen, die es mit jeder federgeschmückten Revue Barrie Koksys aufnehmen können. Inklusive das Spiel mit ebenso symmetrischen Vorhängen.
Da bis zur Pause sämtliche Dialoge gestrichen sind und auch das, was die Interpreten und die Zuschauer gemeinhin bewegt, eliminiert ist, kommt eine völlig andere „Zauberflöte“ dabei heraus, liegt die himmlische Optik dicht an der im Palast der märchenhaften Eiskönigin. Nur die manchmal für einige Töne bewusst aufscheinende Wienerische Lautfärbung von Georg Nigls Papageno lassen unter dem (bzw. den) weiß gepuderten Adligen den Vogelmenschen erahnen, den man zu kennen glaubt. Der ganze erste Aufzug wird so zu einer komplett neuen Zauberflötenerfahrung – irgendwo zwischen hochartifiziell und aseptisch kühl. Am Ende kniet Sarastro (kraftvoll: Gábor Bretz) mit einem Licht in der Hand an der Rampe, während hinter ihm eine Choreographie eines chaotischen Kampfes losbricht, der die bis dahin behauptete Harmonie des Symmetrischen ad absurdum führt. Im Graben ließ das Antonello Manacorda mit seinem beherzten Zugriff immer wieder durchscheinen. Gemeinsam mit dem ausgeglichenen Protagonisten-Ensemble gelingt ihm durchweg eine musikalisch überzeugende Gesamtleistung, die sich gegen eine starke Inszenierung behaupten muss.
Die Pause bringt den denkbar radikalsten Wechsel der Bühnenästhetik. Und reichlich hinzugefügten neuen Texten. Dabei steigt Castellucci nicht bei Mozarts und Schikaneders verfremdetem Freimaurerlogen-Raunen ein, sondern setzt (mit ähnlichem Ehrgeiz) völlig neu an. Es beginnt mit dem Abpumpen von Muttermilch, an der uns drei Frauen an der Rampe teilhaben lassen und mit Reflexionen über Zeit und Unendlichkeit. In einem nüchternen, von brusthohen Wänden umgebenen Raum mit Neonlampen und der Teilung von weiblichem und männlichem Personal links und rechts einer mobilen Trennwand in der Mitte. Die jetzt herrschende Einheitskostümierung erinnert eher an eine Gefängniskluft. Wobei die beiden Gruppen von Laiendarstellern, die hier (in englisch und mit bewundernswerter Professionalität sprechend) zu Worte kommen, tatsächlich Gefangene ihres Schicksals sind. Die Frauen berichten eine nach der anderen von ihrer Erblindung, die Männer von den Umständen, die ihnen gravierende Verbrennungen zufügten. Wenn beim Zueinanderfinden von Pamina (Sophie Karthäuser) und Tamino (Ed Lyon) die blinden Frauen nach und nach die geschundenen Körper der Verbrennungsopfer ertasten, ist das eines der berührendsten Momente einer Art von authentischem Theater, das auch leicht schief gehen kann. In dem Fall aber nicht schief geht, sondern irritiert und bewegt.
Den einzigen Kontrapunkt zu diesem Theater der Tiefenlotung zu Mozarts Zauberflötenmusik setzt Georg Nigl mit seinem Auftritt als liebeskranker Papageno, den er genauso auch in einer x-beliebigen Inszenierung im bunten Federkostüm hinlegen könnte. Allerdings unterbrochen von einer Selbstreflexion seiner Einsamkeit.
Wenn am Ende die Königin der Nacht als Frau allein auf der Bühne zurückbleibt, jetzt den Stab in der Hand hält und die Muttermilch vergießt, die die Frauen dort hineingefüllt hatten, bleibt die Frage, ob das mehr ein Ende oder Anfang sein soll. Jedenfalls ist es der Schlusspunkt (oder das finale Fragezeichen) hinter einer Inszenierung, die auch das letzte Vorurteil, dass die „Zauberflöte“ eigentlich eine Oper für Kinder ist, ausräumt. Mit der in Brüssel jedenfalls haben schon die Erwachsenen genug zu tun.
- Nächste Vorstellungen: 18., 20., 21., 23., 25., 26., 27., 28., 30. September, 3., 4. Oktober 2018