Michael Tolke wurde während der Vorbereitungs- und Probenzeit zu dieser Inszenierung am Deutschen Nationaltheater Weimar von der Realität überrollt: In „Die Hochzeit des Figaro“ geht es bekanntermaßen um das Recht der ersten Nacht, das Graf Almaviva auf seinem Landsitz wenige Jahre vor Ausbruch der Französischen Revolution aufgibt. Dann macht er aber bei der wirtschaftlich von ihm abhängigen Zofe Susanna massiven Druck, um ans Ziel seiner erotischen Begierden zu gelangen. Bei Mozart kommt dieser Fall nicht vor die Justiz, die Graf Almaviva schuftig instrumentalisiert. Die Figuren in der Oper nach Beaumarchais wehren sich und drehen den Spieß um. Mozart ist also nach wie vor brisant und in Weimar überdies ein trendiger Spaß mit Tiefgang.
Die Streicher wirbeln und das Blech schimmert in gedämpfter Distinktion. Kirill Karabits vereint mit der Staatskapelle Weimar diese scheinbaren Gegensätze. Sein „Figaro“ hat in der ersten Hälfte noch die flockenhafte, kristalline Leichtigkeit des Rokoko. Nach der Pause und vorsätzlichem Genrebruch geht es mit voller Kraft Richtung Emotion und immer mehr Körperlichkeit. Schließlich Überraschung: Im Park mit Baumstumpf (was für ein Kastrationssymbol) und grauer Mauer singt Susanna die Rosenarie nicht allein, sondern zusammen und abwechselnd mit der Gräfin: Betörung im Doppel. Dieses nach außen und innen gewandte Liebessolo wird also zum zweistimmigen erotischen Lockruf. Das hat nicht nur dramatischen, sondern auch musikalischen Sinn. Denn Michael Talke, der nach seiner „Werther“-Inszenierung an das Deutsche Nationaltheater Weimar zurückkommt, und Kirill Karabits zielen mit ihrer nicht besonders zügigen, dafür umso detailgenaueren Gangart dieses „tollen Tages“ an einem Strang.
Fetter Lifestyle, viel Puder und rasante Retro-Fashion übertünchen eine Geschlechtlichkeit, die bis dahin nur als neckischer Flirt oder domestizierte Koketterie legitim ist. In der Dunkelheit des Gartenfinales steckt die Befreiung. Da blüht und schwelgt Mozarts Musik in die erotische Explosion hinein, zeigt Kirill Karabits tatsächlich deren oft nur beschworenes anarchisches Potenzial: Die Zofe Susanna gleicht schon vor dem Kleidertausch der dezent zickigen Gräfin Almaviva. Im Gleichtakt lassen beide bereits im Briefduett mit ähnlichem Überdruck wie der nach außerehelichem Dauerspaß hechelnde Graf Almaviva die Hüften kreisen.
Am Ende, wenn alle zu Figaros Hochzeit stürmen, bleibt Graf Almaviva allein zurück. Das hat sein Darsteller Alik Abdukayumov, ginge es nach der vokalen Leistung, nicht verdient. Denn er ist am Anfang der einzige im vitalen Vollbesitz seiner Manneskräfte. Das darf man direkt erleben in echten Fummel-Szenen, von denen in den hier richtig spannend genommenen Rezitativen sonst nur erzählt werden. Almavivas Frisur und Roben ähneln dem riesigen Pudel, den Thilo Reuther in seinem Bühnenbild als Riesenposter hinter den goldenen Rahmen setzt: Ein possierlich Tier ist diese Lifestyle-Hülse und dazu symbolisches Fashion Victim, dem animalische Geilheit aus den manchmal rotglühenden Augen sprüht. Die ganze Dekoration bis zum großen Ehebett des Grafenpaares, in dem leider so gar nichts passiert, scheint inspiriert von einer aktuell bei Jugendlichen beliebten Möbelkette: Plüsch, Rüschen, Flausch und aseptische Androgynie in porentiefer Reinkultur. Die Kostüme von Agathe Mac Queen hopsen zwischen Witz und vorsätzlicher Geschmacklosigkeit, das aktionsintensive Ensemble hopst gerne und sinnig mit.
Gezierte und tänzerische Bewegungen werden zum raffinierten Mittel der Zuschauerübertölpelung. Erst denkt man, dieses Pseudo-Rokoko sei eine Kapitulation vor den Anforderungen des durch Mozart und Lorenzo da Ponte in den Befindlichkeiten des späten Ancien régime allzu festgezurrten Musikkomödienwunders. Doch weit gefehlt: Vom durchgestylten Beginn bis zur Stunde der Wahrheit im nächtlichen Garten schält sich Schicht um Schicht endlich die authentische Menschlichkeit aus den Etiketten, Neurosen, halben Wahrheiten und ach so verwerflichen Hormonattacken.
Am wenigsten aus ihrer Haut kann allerdings die Gräfin Almaviva: Mit dem feinen Schimmer ihrer Koloratursopran-Vergangenheit singt Heike Porstein diese vermeintliche Ikone der Empfindsamkeit und gewinnt im neuen Fach mindestens genauso schöne Farben. Diese Gräfin bestätigt im sattrot bestrahlten Boudoir allerdings auch, dass ihre scheinbar emotionalen doch eher sexuelle Frustrationen sind.
Kein Wunder einerseits bei diesem Womanizer-Gatten und vor allem bei so einem Pagen: Sayaka Shigeshima als Cherubino vereint grazile Gestalt und einen wuchtigen Mezzo, mit dem sie in der Kanzone recht kräftige Saiten aufzieht und Sanftmut als Verführungsstrategie Lügen straft. Im androgynen Aufputz und schwarzer Damen-Frisur will sich Cherubino gar nicht vor weiblichen Angeboten oder männlichen Übergriffen retten. Letztere geschehen natürlich nur in Unkenntnis von Cherubinos wahrem Geschlecht, über das man hier stellenweise sogar ins Grübeln kommt. Cherubinos Schwarm Barbarina, als die SuJin Bae in blauer Schuluniform ein steiler blonder Zahn ist, erhält von Kirill Karabits viele expressive Angebote. Aber nur musikalisch! So kann sie ihre kleinen Szenen zu fast ausladenden Studien der Empfindsamkeit weiten. Die Arien der hier sehr jungstimmigen, mit allen Mitteln plastischer Chirurgie bombig aufgemöbelten Marcellina (Pihla Terttunen) und des mit Artjom Korotkov luxuriös besetzten Basilio werden nicht gestrichen, sondern bekräftigen sogar die musikdramatische Erregungskurve. Der kurzfristig eingesprungene Matthias Henneberg assistiert als Bartolo hochlöblich der nur leicht dominanten Haushälterin Marcellina.
In dieser von geschmäcklerischer Perfektion korrumpierten Gruppe sind triebgesteuerte Gier und Lust zwar in Worten und Gedanken allgegenwärtig, werden aber nur ansatzweise gelebt. Schöne neue Doppelmoral in schillerndster Farbigkeit. Dem Grafen als Verursacher und Motor bleiben Isolation und Melancholie, den Spaß haben die neuen Lustprofiteure. Angesichts der aktuellen Diskurse über sexuelle Benutzung von beruflich Abhängigen gewinnt das intelligente Weimarer Widerspiel von Dekor und Triebhaftigkeit an Schärfe.
Es scheint nur so, als würde das Hauptpaar, der mit seiner Susanna um Autonomie kämpfende Figaro, an diesem „tollen Tag“ etwas untergehen. Es verhält sich aber genau umgekehrt: Diese vom Choreografischen in die Psychen eintauchende Auslegung Mozarts geht nur mit souveränen Spielern in beiden Schlüsselpartien. Uwe Schenker-Primus ist ein Figaro, der mit ein paar legitimen vokalen Freiheiten Grobheit heuchelt und dabei immer herzlich emotional bleibt. Die Weimarer Debütantin Milena Arsovska hat darstellerisch mehrere Gesichter zwischen Puppe und Herzkönigin, vokal aber nur eines: Das eines berührenden lyrischen Soprans, der den erotischen Kampfplatz in schöner Eintracht mit der Gräfin ins große Applaus-Finale treibt.
- Termine: 03.02./19.30 Uhr – 11.02./16.00 Uhr – 24.02. /19.30 Uhr – 08.03./19.30 Uhr – 16.03./19.30 Uhr – 02.04./18.00 Uhr – 19.04./19.30 Uhr - 24.05.18/19:30 Uhr – 16.06./19.30