Ulli Blobel und Ulrich Steinmetzger haben 25 Jahre nach Mauerfall und Wiedervereinigung Resümee ziehen wollen und ließen dafür „Kunststücke aus Ost und West“ sichten. Auf einer Konzerttour wurde das neue Buch der Berliner Jazzwerkstatt vorgestellt.
Zwei Zitate vorab und eins gleich hinterher: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“ und „Das trifft nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich“. Die erbärmliche Debilität dieser Aussagen hätte jeden halbwegs wachen Zeitgenossen schon auffahren lassen sollen – solche Sätze kommen von Staatslenkern? Für jüngere Generationen mutet das vielleicht ähnlich „krass“ an wie „Man kann sich nicht darauf verlassen, dass das, was vor den Wahlen gesagt wird, auch wirklich nach den Wahlen gilt.“ Doch um diese unverhohlene Wahrheit der bisher besten, größten und schönsten deutschen Bundeskanzlerin soll es hier gar nicht gehen.
Zwischen der Lüge von Walter Ulbricht und der Bankrotterklärung von Günther Schabowski lagen genau 27 Jahre Mauerzeit. Tödliche Grenze zwischen Deutschland Ost und Deutschland West. Ein geteiltes Berlin mit einer eingemauerten „Frontstadt“. Just um diese Ära geht es den Herausgebern Ulli Blobel und Ulrich Steinmetzger in ihrem neuen Buch „Berlin | Berlin“, das tatsächlich einen Mauerstrich im Titel trägt und in der Unterzeile „Kunststücke aus Ost und West“ verspricht. Ein gutes Dutzend Autorinnen und Autoren reflektieren darin die unterschiedlichen Kulturentwicklungen dies- und jenseits von Stacheldraht und Beton. Dieses „Hüben und drüben“ kulminierte ja gerade im geteilten Berlin in ganz besonderer Weise – Nachwehen dessen sind noch heute nicht ganz überwunden.
Das in der Jazzwerkstatt Berlin erschienene Buch, ein prächtiger Bildband mit ergiebigen Lesestrecken nebst historischen Fotos, ist Erinnerungshilfe und Erfahrensdiktum zugleich. Ein Nachschlagewerk ist es nicht geworden, dazu fehlen enzyklopädische Faktizität sowie grundlegende Details wie zum Beispiel ein hier sicherlich sinnvoll gewesenes Namensregister. Stattdessen bieten Koryphäen wie Karl Dietrich Gräwe, Torsten Maß, Bert Noglik, Andreas Tretner und viele andere essayistische Darstellungen zu einem klug ausgewählten Themenspektrum. Wenn Georg-Albrecht Eckle eingangs Bertolt Brecht bemüht, ist das ein Einstand in die Materie, der zeigt, wie sehr sich die Berliner (nicht minder die gesamtdeutschen) Kulturpotenziale sich rasch aus einer Gegnerschaft begriffen haben.
Exemplarisch dafür werden „Gegensätze und Einhelligkeit“ von Boris Blacher und Paul Dessau erörtert, werden Ost-West-Gänger wie Thomas Brasch und West-Ost-Gäste wie Pina Bausch porträtiert. Den ambitionierten Versuch, „Berliner Theater in Ost und West von 1945 bis 1989“ abzulichten unternimmt Klaus Völker, der in seinem Beitrag sogar die Vorschichte der Zwanziger Jahre mit einfängt. Herausragende Konzertereignisse sind ebenso Themen wie die Berliner Festspiele als „Kind des 'Kalten Krieges'“. Da heißt es rückblickend: „Es waren gute (um nicht zu sagen) goldene Zeiten – für die Kunst, die Kunstvermittler und die Kulturpolitiker. Denn es gab eine tolle Vision in einem untollen Koordinatensystem.“ Eine Einschätzung, die gewiss von der damaligen Verortung in diesem Koordinatensystem abhängig sein mag. Beispielhaft auch die Porträts der Jazzmusiker Alexander von Schlippenbach und Ulrich Gumpert, denn auch sie sind ein Beleg für das Verbindende im Getrennten, für Trennendes im Verbundensein.
Die Herausgeber haben ihre lesenswerte Publikation in den vergangenen Wochen an mehreren Orten auf einer musikalischen Tour nicht nur im Osten und Westen, sondern auch im Norden und Süden präsentiert. Autorenlesungen sowie jazzige Auftritte beispielsweise vom legendären Zentralquartett gehörten mit dazu.
Den Abschluss dieser Lesereise bildete – vorerst – ein Auftritt in der Leipziger naTo. Die Herausgeber lasen dort ebenso wie der „Jazzperte“ Bert Noglik, der seinen fulminanten Gumpert-Text vortrug. Wie zur Synthese dieser informationshaltigen Wortkunst spielte im Anschluss das Ulrich Gumpert B3 Quartett auf. Lustvolles Perlen und Wühlen in den Klangräumen der guten alten Hammondorgel des in Berlin lebenden Thüringers, erfindungsreiches Ventilieren auf dem Saxofon von Silke Eberhard, die es von Baden-Württemberg nach Berlin zog. So manche Melodiefetzen jagten fugenartig einander hinterher, als gälte es, in der Sprache der Musik die Geschichten von hier und von drüben, von drüben und von hier noch einmal nachzuvollziehen. An Bass und Schlagzeug stimmten mit Jan Roder und Kay Lübke zwei ebenfalls zugezogene Neu-Berliner in diese Melange ein.