Ob das Schrumpfen gemeinsamer Erlebnisse von Kunstproduktion und Aneignung auf das Standard- respektive Bildschirmmaß der individuellen Aneignung von Informationen, Dauerschäden auf allen Seiten hinterlassen wird, gehört zu den spannenden Fragen fürs postpandemische Zeitalter, fragt sich unser Kritiker Joachim Lange.
Die Idee, Oper als eine Spielart von Archäologie aufzufassen, hat durchaus selbstironischen Charme. Ausgraben und herausputzen, was vor Generationen produziert und bewundert wurde. Es in eine Vitrine stellen, wieder als Schmuck- und Erbstück bewundern und über den Kontext von damals, den für heute erkunden. Davon leben das Genre und die Branche. Dafür haben sich erst die Fürsten und dann die Bürger wahre Paläste in die Städte gesetzt. Oper funktioniert eigentlich immer so. Auf die kürzere Distanz der anhaltenden Pandemie bezogen aber, kommt hinzu, dass die eingeübte Rezeption mit all ihren Glücksfällen und Ärgernissen, die ein anwesendes Publikum vor Ort miterleben kann, überlagert wird, und sich nur noch als digitales Surrogat vor den Bildschirmen in Erinnerung bringt. Ob dieses Schrumpfen des gemeinsamen Erlebnisses von Kunstproduktion und Aneignung auf das Standard- respektive Bildschirmmaß der individuellen Aneignung von Informationen, Dauerschäden auf allen Seiten hinterlassen wird, gehört zu den spannenden Fragen fürs postpandemische Zeitalter.
David Marton ging vor zwei Jahren in Lyon noch einen Schritt weiter. Als das Virus noch im Tierreich auf der Lauer lag, hat er in einer interessant experimentierenden Überschreibung von Henry Purcells (1659-1695) kurzer Oper „Dido und Aeneas“ diese Perspektiv-Verschiebung durchexerziert und dem Titel ein „remembered“ hinzugefügt. Der Kern seiner Idee ist, die historische Geschichte als verschüttete Zukunft in der Vergangenheit ausgraben und bestaunen zu lassen.
In Lyon war das Bestandteil des kleinen Festivals, das der künftige Münchner Staatsopernintendant Serge Dorny regelmäßig veranstaltet. Eine Art Vergrößerungsglas, mit dem er internationale Beobachtung (und Wohlwollen) provozierte und sein Haus zu einem nicht mehr zu übersehenden Ort in der europäischen Musiktheaterlandschaft machte (und sich selbst zum heißen Kandidaten für frei werdende Spitzenposten seiner Branche in Deutschland).
Der 1975 in Ungarn geborene Regisseur David Marton schlug damals bewusst eine Brücke zwischen dem 17. und dem 21. Jahrhundert. Er kombinierte Purcells Musik mit einer Kompostion des finnischen Jazzmusikers Kalle Kalima (*1973). Was sich gut in die Grenzgängerei einfügt, die er in seiner Arbeit bevorzugt. Seine Inszenierung „Dido and Aeneas Remembered“, die es mit über zwei Stunden auf die doppelte Länge wie die Purcell Partitur brachte, machte dann bei der Ruhrtriennale Station und war schließlich auch für den dritten Kooperationspartner, die Flämische Oper Antwerpen/Gent, vorgesehen. Bei der letzten Station funkte allerdings das Virus dazwischen. Marton und das flämische Opernhaus machten aus der Not eine Tugend und der Regisseur aus der klassischen Bühnenvariante eine Art überlangen Videoclip zur Musik von Purcell und Kalima sowie den dazwischen gestreuten französischen Rezitationen von zusätzlichen Texten von Vergil.
Die Straffung des Ganzen auf 1 Stunde 50 Minuten ist dem erinnerten Vergleich mit der Länge in Lyon ebenso bekommen wie die Adaption ins filmische Format. Ein Opernfilm, der Nahaufnahmen ebenso ausspielt, wie die optische Konzentration auf das Detail.
Die als Archäologen im antiken Gewand Juno und Jupiter verkörpernden Mimen Marie Goyette und Thorbjörn Björnsson bergen ein Handy oder Computerzubehör mit Pinsel und Vorsicht aus den überlagernden Sandschichten und sammeln sie in einem Gefäß wie kostbare Schätze, deren Sinn man erst noch erkunden muss. Oder sie bestaunen einen veritablen Kabelsalat so, wie man heutzutage die Schmiedekunst aus grauer Vorzeit bewundert. Im Film ist es allemal leichter, den metaphorisch subversiven Hintersinn eines Perspektivenwechsels zwischen dem „Einst“ und „Jetzt“ zu erahnen. Oder eben das „Einst“ in Thomas Mann-Manier für Vergangenheit und Zukunft zu nehmen. Die filmische Collage kommt der musikalischen jedenfalls noch einmal ein Stück weit mehr entgegen, als das auf der Bühne der Fall war.
Den Part der Königin Dido verkörpert wieder die französische Mezzosopranistin Alix Le Saux. Der französische Bariton Guillaume Andrieux überzeugt als Grieche Aeneas auf dem Weg von Troja nach Italien. Große königliche Liebe und Zwischenstop bei einer historischen Mission in Karthago – das konnte als Lovestory nicht gut gehen. An der Seite von Dido überzeugt als deren Schwester (und Beraterin) Belinda Claron McFadden. Der Clou bei Martons Irrlichtern zwischen den Zeiten und Ebenen sind die in jeder Hinsicht auf ihre archaische Wucht setzenden vokalen Beiträge, die die amerikanisch-schweizerische Performerin Erika Stucky als Zauberin, als Geist oder in den Zwischenspielen beisteuert. Sie ermöglicht damit eine Art Innehalten auf einer anderen Ebene.
Natürlich spielen Bart Naessens und das B’Rock Orchestra dabei eine kontemplativ und vorwärtsreibende, aber auch transparente und sinnliche Rolle. Man sieht die Musiker und ihren Dirigenten am Ende einmal und da wie hinter einem Schleier verdämmern.
Schon, weil die Wiederentdeckung von Purcells Musik selbst eine spannende, geradezu archäologische Geschichte hat, passen Vorlage und Überschreibung und schließlich die Überarbeitung der Überschreibung am Ende auf seltsam berührende Art zueinander.
Der Opernfilm ist nach dem Livestream vom 24. April noch 14 Tage online im Netz verfügbar. Karten: €10 | operaballet.be