Im Jahre 2018 gab es in Wien ein spektakuläres Premierendoppel. Zum einhundertsten Geburtstag des 1996 verstorbenen Komponisten Gottfried von Einem brachte die Staatsoper „Dantons Tod“ nach Georg Büchner (1947) und das Theater an der Wien „Den Besuch der Alten Dame“ (1971) nach Friedrich Dürrenmatt heraus . Ein Werk, das vor vier Jahren auch über die Bühne in Radebeul ging.
Nach der Uraufführung von „Dantons Tod“ wurde von Einem gerne als Komponist der „Stunde Null“ beschworen. Ob nun völlig treffend oder nicht: einer der über Jahre meist aufgeführten Opernkomponisten in Deutschland und Österreich wurde er.
Radebeul eröffnete jetzt die Spielzeit mit einer weiteren seiner Literaturopern aus dem Jahre 1953. Auch in ihr geht es um Anklage und Verteidigung. Sie hat sogar den Titel „Der Prozess“. Da die Vorlage von Franz Kafka (1883-1924) stammt, ist bei diesem ominös über dem Haupt des Prokuristen Josef K. schwebenden Prozeß bis zuletzt unklar, warum er eigentlich verhaftet wird, um möglicherweise angeklagt zu werden. Und wer da eigentlich der Ankläger ist. Nicht mal, was diese Verhaftung rein praktisch bedeutet ist klar. Die Rede ist immer nur nur von diversen gesichtslosen Behörden oder Funktionsträgern.
Was Boris Blacher und Heinz von Cramer nach Kafkas Vorlage in den neun Bildern des Librettos entfalten, ist ein Paradebeispiel dessen, was als kafkaesk in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen ist. Und was jenes Gefühl der Ohnmacht gegenüber immer undurchschaubarer werdenden Umständen oder Mächten beschreibt, der sich das Individuum ausgesetzt sieht. In den Jahren unmittelbar nach dem Krieg mag die verdrängte Mitschuld der Deutschen an den Verbrechen der Nazis ein durchaus naheliegendes Erklärungsmuster für die in Joseph K. aufsteigenden Ängste und seine Beteuerungen, er sei unschuldig, gewesen sein. (Das Programmheft zitiert Joachim Reibers Biografie des Komponisten in diesem Sinne.) In Zeiten schwindender faktenbasierter und evidenter Gewissheiten wie heute aber, öffnet sich das Kafkaeske weit ins Allgemeine.
„Der Prozeß“ ist auch in dieser Hinsicht ein Stück zur Stunde. Ins Auge gefasst hatte der bisherige, in der kommenden Spielzeit als Intendant nach Regensburg wechselnde Operndirektor der Landesbühnen und Regisseur Sebastian Ritschel diese von Einem Oper schon länger. Gut, dass er das ambitionierte Vorhaben jetzt umgesetzt hat.
Es ist sozusagen ein Musterprozess geworden, der musikalisch und szenisch überzeugt. Arrangeur Tobias Leppert hat für den Radebeuler Graben (und damit generell für kleinere und mittlere Häuser), und zugleich, um den geltenden Hygienebestimmungen entgegenzukommen, eine reduzierte Orchesterfassung erstellt. Hans-Peter Preu und die Musiker der Elbland Philharmonie Sachsen können also sogar eine Erstaufführung verbuchen. Und sie machen das grandios - präzise und mit drängender Vehemenz. Mit einem glasklaren, dadurch faszinierend verständlichen Parlando. Sie tragen ein fabelhaftes Ensemble auf Händen und lassen jeden einzelnen zur Hochform auflaufen. Besonders Pascal Herington als Joseph K. macht die zunehmende Hilflosigkeit des Titelhelden mit seiner geschmeidigen Eloquenz und seinem darstellerischen Charisma glaubhaft.
Aber auch alle anderen Protagonisten haben sich das alptraumhaft Kafkaeske ihrer Figuren überzeugend anverwandelt. Neben den drei Frauenrollen (Franziska Abram, Anna Erxleben oder Ylva Gruen) ist der Auftritt von Aljaz Vesel als selbst knallbunter Prominentenmaler Titorelli ebenso treffsicher, wie der von Michael König als sadistisch angehauchter Prügler seiner eigenen Leute. Im Look der gemusterten stilisierten Kostüme an Magritte erinnernd, gilt das aber auch für Benedikt Eder, Jonas Atwood und Johannes Schwarz in ihrer verschiedenen kleinen Mehrfachrollen. Christopher Wernicke, Stefan Georg Schmitz und Friedemann Gottschlich sind als Trio mit ihren fabelhaft choreografierten Auftritten als drei Herren bzw. junge Leute in Frauenkleidern eine Klasse für sich (Choreografie: Gabriel Pitoni). Überhaupt stimmt das Timing und die stilistische Geschlossenheit dieser Inszenierung bis ins fantasievolle Detail. Die gerahmten Porträts in Josephs Zimmer etwa führen ein surreales Eigenleben. Kafka meets Dorian Gray sozusagen (Videodesign: Sven Stratmann).
Ritschels hochästhetische Bühne ist so beklemmend wie triftig. Mit drei Wänden auf der Drehbühne werden drei Räume (sein Zimmer, die Bank, eine nächtliche Straße) imaginiert, zwischen denen Joseph K. sich zwar bewegt, denen er aber nicht entkommen kann. Rechts und links davon befinden sich zwei Verschläge, die mit Exit überschrieben sind - der rechte spiegelverkehrt. Sie sind natürlich nicht, was sie vorgeben….
Am Ende sitzt Josef K. als einziger (unschulds-?)weiss Gekleideter allein in seinem Zimmer. Nach seinem Parforceritt durch den Nebel aus diffusen Schuldgefühlen und eskalierenden Ängsten von der Allmacht des „Gerichtes“ und all der damit verbunden grotesken Auswüchse. Wenn sich der Vorhang schließt ist Joseph K. ist ein anderer.
Der Premierenbeifall in Radebeul ist mehr als herzlich. Vor allem die vielen Jugendlichen im Publikum sorgen da für Stimmung.
Nächste Vorstellungen: 17., 22., 24., 31. Oktober 2021