Nach den coronabedingten Einschränkungen der beiden letzten Jahre herrschte in diesem Sommer bei Young Euro Classic fast schon wieder Normalität. So konnten die über 20.000 Besucher der 17 Konzerte im Konzerthaus Berlin auch große Symphonien erleben.
So bot das Bundesjugendorchester unter Marc Albrecht zwei gleichzeitig entstandene spätromantische Werke. Antje Weithaas und Maximilian Hornung waren die hervorragenden Solisten in dem Doppelkonzert, mit dem Johannes Brahms sich wieder mit Joseph Joachim versöhnte. Die klangliche Qualität des Orchesters zeigte sich auch in der Pianissimo-Spannung der langen Einleitung zu Mahlers 1. Symphonie.
Manche Konzerte besaßen erhöhte politische Symbolik, so der umjubelte Auftritt des Youth Symphony Orchestra of Ukraine unter der inspirierenden Leitung von Oksana Lyniv oder das Gastspiel des Chineke! Junior Orchestra, in dem people of colour sich noch nicht ganz festspielreif präsentierten. Musiker und Musikerinnen aus den Nicht-EU-Staaten Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien haben sich zum West Balkans Youth Orchestra zusammengefunden. Der albanische Dirigent und Pianist Desar Sulejmani hat dieses Streichorchester 2019 – zwanzig Jahre nach dem Kosovo-Krieg – gegründet, um historische Altlasten abbauen zu helfen. Obwohl das Ganze ein Politikum ist, wird nicht über Politik gesprochen. Man will aber das Potenzial der Region nach außen sichtbar machen und eine Verbindung zum Westen herstellen. Das junge Orchester wirkte bei Griegs Holberg-Suite und Chopins 1. Klavierkonzert noch überfordert. Und das neue Werk „Federn der Trauer“ von Gerti Druga, das als Antwort auf die gegenwärtige Lage konzipiert war, wirkte eher wie ein Idyll als eine Elegie. Stärker schienen sich die Musiker mit der Kammersymphonie op. 110a von Schostakowitsch identifiziert zu haben, die sie in der Streicherfassung von Rudolf Barschai spielten. In diesem Werk, mit dem jetzt der Opfer des Ukraine-Kriegs gedacht wurde, spürte man schon im düster-fahlen Beginn trotz des rohen Zusammenspiels authentischen Ausdruck.
Das schwedische O/Modernt Orchester war bereits zum fünften Mal zu Gast, immer mit innovativen Programmen. So konfrontierte es 2017 Arvo Pärt mit indischer Musik und 2021 Hildegard von Bingen mit Avantgarde. In diesem Jahr war neben einem Education-Projekt ein Abend „Milestones“ zu erleben, der Werke von Josquin und Strawinsky mit Jazztiteln von Miles Davis zusammenführte. Der Geiger Hugo Ticciati, der künstlerische Leiter des Ensembles, sieht die modale Harmonik und Melodik als gemeinsames Element dieser unterschiedlichen Musiksphären. Im O/Modernt New Generation Orchestra ließ er junge Streicher den gestandenen Jazzprofis Nils Landgren (Posaune), Gwilym Simcock (Klavier und Arrangement), Jordi Carrasco Hjelm (Bass) und Robert Ikiz (Schlagzeug) gegenübertreten. Schon die obligatorische Festival-Hymne erklang als Jazzimprovisation. Auch die ruhig begonnenen Josquin-Stücke erhielten rasch chromatische Ergänzungen; Haltetöne addierten sich zu Clustern, so dass sich die Jazz-Titel bruchlos anschließen konnten. Eingefügt waren zwei Kompositionen von Igor Strawinsky: seine drei Stücke für Streichquartett und die Suite für Klarinette, Violine und Klavier aus der „Geschichte vom Soldaten“. Diese erklangen in der Originalfassung, wurden aber so wild und akzentuiert gespielt, dass sie als „Jazz“ durchgehen konnten.
Der lebendige Kontakt zum Publikum, der an diesem faszinierenden Abend gelang, fehlte beim Auftritt des überwiegend männlichen Bundesjazzorchesters. Es präsentierte Bigband-Arrangements von Michael Gibbs, die es zusammen mit diesem Altmeister erarbeitet hatte. Trotz der vielen interessanten Klangfarben und bewegten Lichteffekte wirkte das Ganze etwas steril.
Der aus Istanbul stammende und international ausgebildete Cem Mansur hat 2007 die Nationale Jugendphilharmonie der Türkei als ein „Laboratorium der Demokratie“ gegründet, das bereits mehrfach in Berlin gastierte. Nachdem es wegen Corona 2020 seine Arbeit unterbrechen musste und 2021 in kleiner Besetzung nur eine Türkei-Tournee durchführen konnte, wurden in diesem Jahr endlich wieder Auslandsgastspiele in 60-köpfiger Besetzung möglich. Der hohe Frauenanteil ist allerdings, wie Mansur in einem Podcast ausführte, kein Indiz für Emanzipation, sondern für die mangelnde Zahl von Orchesterstellen in der Türkei; Frauen seien hier eher als Männer bereit, auf eine Laufbahn als Berufsmusiker zu verzichten. Das interessante Programm widmete sich der Auseinandersetzung mit dem 18. Jahrhundert bei Tschaikowsky („Mozartiana“ und „Rokoko-Variationen“) und Gabriel Fauré („Masques et Bergamasques“). Auch der 1977 geborene Evrim Demirel, gegenwärtig Jazzprofessor an der Universität Istanbul, bezog sich in seiner neuen Komposition „Ottoman Miniatures II“ auf die Vergangenheit. Der Titel meint die nicht-figürliche Malerei des Islam, deren lineare Strukturen der Komponist auf die Musik übertrug. Neues im Alten entdeckte er auch in der Vierteltönigkeit in traditioneller türkischer Musik, die jetzt in Harfe und Oboe zu hören war – eine überzeugende Synthese, welche von der Publikumsjury mit dem Europäischen Kompositionspreis 2022 ausgezeichnet wurde. Der Dirigent und sein Orchester wurden aber auch für die Spielkultur gefeiert, mit der sie an diesem Abend geglänzt hatten.
Anders als in der Türkei existiert in Polen die klassische Musik nicht in einem Ghetto. Aber in der Musikausbildung gibt es hier Defizite im Ensemblespiel. Als Antwort darauf entstand 2013 zum 100. Geburtstag von Witold Lutosławski auf Initiative der Philharmonie von Szczecin/Stettin das International Lutosławski Youth Orchestra. Es spielte ausschließlich Werke des 20. Jahrhunderts, beginnend mit der symphonischen Dichtung „Blanca da molena“, die der früh verstorbene Mieczysław Karłowicz im Jahr 1900 in Berlin geschrieben hatte. Schon bei diesem reich instrumentierten spätromantischen Werk zeigte das Orchester unter Leitung des Aserbaidschaners Ayyub Guliyev sein beachtliches Können. Beim Cellokonzert seines Namenspatrons war Marcin Zdunik ein technisch gewandter Solist, der allerdings die Dramatik des Werks nicht ganz auskostete. Den Schluss bildete Bartóks Konzert für Orchester, das virtuos in rasantem Tempo endete.
Zu den Konzerten von Young Euro Classic gehören informative Programmhefte (neuerdings ergänzt durch einen Podcast), die Festivalhymne von Ivan Fischer sowie Ansprachen eines Paten oder einer Patin. Nicht alle Grußworte waren so packend wie die des Schauspielers Boris Aljinovic, der den Auftritt des Bundesjugendorchesters durch einen fiktiven Dialog zwischen Brahms und Mahler einleitete. So war es eine gute Idee, dass anstelle eines Paten ein junger Musiker das Gastspiel der Angelika Prokopp Sommerakademie der Wiener Philharmoniker einführte. 68 Musiker*innen aus aller Welt seien ausgewählt worden und hätten „von Angesicht zu Angesicht“ bei Mitgliedern der Wiener Philharmoniker lernen dürfen. Die Klangkultur dieses berühmten Orchesters sei ein Mysterium. Vor Berlin gastierte man schon im ungarischen Esterhazy, dem Wirkungsort Joseph Haydns, dessen Sinfonia concertante op. 84 mit vier jungen Solisten (1 US-Amerikaner, 2 Österreicher, 1 Rumäne) blitzsauber und in spannungsvoller Interpretation gelang. Auch bei Kodálys „Tänzen aus Galanta“ und Dvoráks 8. Symphonie kam es unter der Leitung von Tomáš Hanus zu Ensembleleistungen von großer Klangkultur, aus denen Soli von Klarinette und Flöte herausragten.
Ganz anders wirkte am folgenden Abend das Orquestra Juvenil Nacional de Uruguay-Sodre. Hier wurde der weniger perfekte Klang durch Lebendigkeit ausgeglichen. Jetzt stand am Pult kein Gastdirigent, sondern Ariel Britos, der das Orchester 2011 nach dem Sistema-Modell aus Venezuela gegründet hatte. Mittlerweile besitzt es, so zu Beginn eine junge Musikerin, hohe Bedeutung für alle Mitglieder. Man sei wie eine Familie und lerne, aufeinander zu hören. Als Uraufführung erklang „The Road to Bremen“ des 1940 in Uruguay geborenen Sergio Cervetti. Gestützt auf das Grimm-Märchen von den Bremer Stadtmusikanten deutete er in diesem Werk den Weg von Einsamkeit zu Gemeinsamkeit an. Ein Trauermarsch mit Minimal-Music-Elementen wurde allmählich durch expressive Einzelstimmen verdrängt. Bei den Violinglissandi konnte man an die Bremer Katze, bei der Piccolo-Flöte an den Hahn denken. So wurde das Märchen zu einem schönen Modell für orchestrales Zusammenspiel. Ihre musikalische Gemeinsamkeit zeigten die jungen Gäste dann vor allem in rhythmischen Kompositionen aus Lateinamerika. Britos entging hier der Gefahr des bloß temperamentvollen Lärmens durch viele leise und oft solistische Einlagen. Groß war der Jubel, als nach zwei argentinischen Tangos auch noch der eigene, nämlich aus Uruguay stammende Tango „La Cumparsita“ erklang.