Es sei, sagte Roland Geyer, der Intendant des Hauses, das „größte Unterfangen seit der Wiedereröffnung des Theaters an der Wien im Jahr 2006“. Allen Beteiligten war klar, dass sie mit diesem großformatigen Projekt ziemlich viel riskierten: Es setzte das Seziermesser an die Partituren, die der nach wie vor zahlenmäßig großen, im Opernbetrieb einflussreichen und gut organisierten Wagner-Gemeinde als sakrosankt gelten.
Tatjana Gürbaca und das Wiener „Trilogie“-Team stellten freilich in Aussicht, die nach ihrer Auffassung mitunter umständlich und für heutige Ohren nicht mehr so einfach verständliche „Ring“-Fabel auf spannende Weise zeitgemäß zu erzählen. Die Regisseurin und die mit ihr assoziierte Dramaturgin Bettina Auer wählten hierfür eine „subjektive Erzählweise“ – die Zuspitzung der Tragödie aus dem Blickwinkel der drei nicht mehr göttlichen, sondern ganz Mensch/Menschin gewordenen Protagonisten: Hagen, Siegfried und Brünnhilde. Unterstützt vom Dirigenten Konstantin Trinks schnitten sie die vierteilige Folge von Mono- und Dialogen, Terzetten und Ensemble-Szenen in Stücke und montierten diese neu.
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Die Handlung von Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ ging entstehungsgeschichtlich vom tragischen Tod des germanischen Superhelden Siegfried aus. Sie läuft mehr als dreieinhalb lange Abende auf diesen Kulminationspunkt zu. Will eine neue Produktion die komplexe und immer wieder von Rückblenden retardierte Story nicht einfach nur auf die eine oder andere Weise bebildern, dann muss sie entweder radikal dekonstruieren oder – was zunehmend ein unlösbares Problem darstellt – noch einmal „neu erzählen“. Traditionelle Erzählweisen sind längst so gut wie erschöpft. Das Theater raunt nun aber denen, die es lieben, nicht nur zu „es war einmal“, sondern wirft mit dem Blick auf das Vergangene auch die Frage auf, was aus dem Einst wurde, wird und werden kann.
Die Tetralogie schickt Götter, Reisen, Zwerge, leuchtende Helden und finstere Bösewichter in den Kampf um die Weltherrschaft oder auch ums bloße Überleben. Der Zyklus behandelt den Raub von Bodenschätzen und kapitalistische Akkumulation durch Ausbeutung. Er handelt von Eiden, Ehren-, Ehe- und Bauproblemen, Männerkämpfen, Männertreu und anderen Gewalttaten, von List, Tücke und schlimmstem Verrat. Der scheint nur durch den Tod des Verräters zu sühnen.
Die drei ausladenden großen Opern, die dem streckenweise operettenhaften Vorspiel „Rheingold“ folgen, kreisen in hohem Maß um Kinder, die in den Weltherrschaftsplänen der Altvorderen Schlüsselrollen einnehmen. Dies gilt für die Nachfahren des ursprünglich allgewaltigen, dann vom Machtverfall eingeholten Vaters und Großvaters Wotan, aber auch für Alberichs einzigen Abkömmling. Dem „freien Helden“ Siegfried hat Wagner ohnedies einen Abend seiner „Ring“-Tetralogie schwerpunktmäßig gewidmet, dessen Geliebten Brünnhilde, Wotans in Ungnade fallender Lieblingstochter, die halbe „Walküre“ und die halbe „Götterdämmerung“. Vergleichsweise stiefväterlich behandelte der Dichterkomponist hingegen den Gegenspieler, den Helden- und Liebestöter Hagen (Alberich zeugte ihn, nachdem er „der Liebe abgeschworen“ hatte und den mythisch-magischen Ring schmieden ließ, unter Anwendung von List und Gewalt).
Das und der ungute Erbe
Sie habe an sich selbst beobachtet, meinte Tatjana Gürbaca, dass sie schon als Jugendliche, wenn sie den „Ring des Nibelungen“ sah, die zweite bzw. dritte Generation der Akteure mehr interessierte als die Geschichte Wotans, „die meistens erzählt wird“. Die instrumentalisierten Kinder der Tetralogie sind durch die Ahnen in fortgepflanzte Konflikte verstrickt. Sie „tragen die Schuld der Väter mit sich“ und entgehen den Folgen nicht, unterstreicht die Regisseurin. „Sie müssen ins Katastrophische gehen mit dem, was sie geerbt haben. Das ist wirklich tragisch und furchtbar. Da sind wir der griechischen Tragödie am nächsten. Ich finde, es lohnt sich, das zu erzählen.“ Durch die Abänderung des Titels wollte Gürbaca den Zuschauern vorab deutlich machen, dass diese ihre Produktion nicht mit einer herkömmlichen „Ring“-Inszenierung verwechseln mögen. Zum anderen resultierte sie konsequent aus der Fokussierung: „Da hat es sich logisch ergeben, dass wir auch die Geschichte des Täters erzählen, die Geschichte des Opfers und die Geschichte der unsichtbaren Dritten, die ja Geliebte, verratene Frau und Verräterin in einem ist – Brünnhilde.“
Zuvorderst konzentrierte Gürbaca die Aufmerksamkeit auf den unterbelichteten Hagen. Der bewegt sich weitgehend im Hintergrund der politischen Bühne, hat dort aber den Macht- und Gewaltapparat fest im Griff. Dieser Hagen wird durch Samuel Youn erwartungsgemäß zum finsteren Bösewicht, der mit kaltem Blick beobachtet und analysiert, sich immer wieder mit beherrscht gewaltigem Bass einmischt und erst im Finale des „Brünnhilde“/„Götterdämmerung“-Teils den ganzen aufgestauten Erwartungsdruck und die Bereitschaft zum Äußersten in die Stimme legt. Hagens Mannen wurden als Baseball-Mannschaft choreographiert – als gut gedrilltes Kollektiv, das aber bei Siegfrieds Ankunft am Rhein aus seiner Gleichmütigkeit aufgescheucht wird; mehr noch bei der Rückkehr des durch Zaubertrank getäuschten und daher zum Verräter an Brünnhilde werdenden Helden mit dem Schwager Gunter (böse dekadent und als gefährlicher Schwächling charakterisiert: Kristján Jóhannesson). Im Unterschied zu seinem Gegenspieler Siegfried, dem „neuen Menschen“, kennt Hagen von vorneherein die Herkunft, die magischen Funktionen und Zauberkräfte der symbolkräftigen Requisiten Ring, Helm und Speer. Gürbaca spricht in Bezug auf sie von der „Heiligkeit der Gegenstände“. Diese aber zeitigen durchweg Abträgliches, Verwerfliches, Unheiliges. Die Regisseurin begreift die übernatürlichen Kräfte der hehren Objekte als „menschliche Projektion“ und führt sie als bloße theatrale Behauptungen vor.
Auch mit anderen szenischen Herausforderungen verfährt sie analog. Den großen Lindwurm zum Beispiel, den man mitunter immer noch als peinlichen naturalistischen Spätnachzügler, allzu oft auch als szenische Verlegenheitslösung erlebt, bildet ein kleiner Konvoi der drei Rheintöchter in anmutiger Bewegung und mit eindeutiger Zielrichtung auf den männlichen Unterleib. Mit ihrer verlockenden Sinnlichkeit und ihren Sirenen-Stimmen stellen die drei Grazien aus der Tiefe des mythologischen Raums die größte Bedrohung für männliche Zielstrebigkeit und Heldhaftigkeit dar: Die leichtfüßige und den Leichtsinn betonende Woglinde Mirella Hagen (die dann auch wegweisend als Waldvögelchen quinquiliert), die Wellgunde Raehann Bryce-Davis mit üppig fließenden (Angebots-)Formen und Ann-Beth Solvang als Flosshilde mit dem geheuchelten größeren Verständnis für Alberichs Begehren und Verlangen.
Das Trio gestaltet seinen differenzierten szenischen Einsatz so überzeugend wie das Zurufen und das sich zum Terzett verdichtende Singen. Die Aura der Natürlichkeit kommt diesen Rheinnixen im letzten Teil der Trilogie dann gründlich abhanden. Da unterbreiten sie dem sich auf der Jagd verirrenden Siegfried als hungernde und frierende Bordsteinschwalben das weitestgehende Angebot, um den kapitalen Fehler ihrer ursprünglichen Unachtsamkeit wiedergutzumachen. Indem ein stummer Knabe – Hagen als Kind – den Vater bei seinem Ausflug zu den im lehmigen Flussbett des Rheins turnenden und turtelnden Damen begleitet, dabei von dessen würdelosem Werben angewidert ist, sudelt er in seiner Ohnmacht „Huren“ an die weißen Begrenzungswände und beschließt wohl bei sich, dass es die größte Macht zu erringen gilt, um sich zu behaupten. Auch das ist, wie so viele Details in Gürbacas „Ring“-Trilogie, fein beobachtet und passgenau eingesetzt.
Jetzt ist schon wieder etwas passiert
Jeder der drei Abende beginnt mit Donnergrollen und dem pantomimisch dargestellten Speer-Stich von hinten. Mit ihm sühnt Hagen Siegfrieds Meineid und verbessert zugleich seine Chancen auf den Erwerb des magischen Rings entschieden. Dann folgt jeweils eine szenisch-musikalische Montage, die im Wesentlichen die auf den Protagonisten des Abends fokussierenden Szenen neu ordnet. Das führt zu verblüffenden und tatsächlich innovativen Seh- und Hörerfahrungen. Von den gut fünfzehn Musikstunden an vier Abenden verblieben knapp zehn an drei. Einige kleinere Kürzungen innerhalb der Szenen fallen kaum ins Gewicht (man mag sich sogar, wenn Wagner ausufernd abschweift, eher noch beherztere Striche wünschen). Die gestraffte und auf eine reduzierte Personenzahl zurückgenommene Handlung dürfte insbesondere Wagner-Novizen einen leichteren Zugang zum sperrigen Werk ermöglichen. Die drei raunenden Nornen, Freia und ihre für ewige Jugendfrische sorgenden Äpfel, Fricka samt putzigem Widdergespann, der leichtlebige Froh, der hammerschwingende Donner – fast die ganze Burgmann- und frauenschaft von Walhall fuhr ersatzlos in den Orkus. Das neue „Ring“-Verschnitt mit den vorsätzlichen Aussparungen enthält aber auch für Kenner so manches, was sie möglicherweise bislang überhört oder übersehen haben, weil die veränderten Kontexte eben auch neu sehen, hören und denken lehren.
Innovative Seh- und Hörerfahrungen
„Hagen, mein Sohn, schläfest du schon?“ In der auf die Pantomime folgenden ersten Szene des zweiten Aufzugs der „Götterdämmerung“ bringt Alberich sich und seinen historischen Auftrag dem finster brütenden Hagen in Erinnerung. Der lebt unfroh bei seinen Halbgeschwistern am Gibichungen-Hof. Der blutige Verband am Stumpf von Alberichs rechten Unterarm verweist auf das epochale Verbrechen, mit dem Wotan Vermögenswerte an sich brachte, an denen er nicht die geringsten Eigentumsrechte besaß, indem er mit dem Ring zumindest auch noch die Finger abriss. Den Chefberater Loge, der die üble List zur „Zernichtung“ des Emporkömmlings aus dem Zwergenreich ausheckte, gibt Michael J. Scott als adretten österreichischen Juristen und Burschenschaftler-Politiker. Martin Winkler legt die Alberich-Partie so an, dass dieser Parvenü einerseits mit seinen neureichen Allüren von Herzen unsympathisch wirkt. Andererseits ist er – durchaus mit Faible fürs Groteske – auf eine Nobilitierung bedacht, die jeder erfolgreiche Unternehmer wie selbstverständlich erwarten darf. Es gelingt dem überragenden Wotan Aris Argiris mit souveränem Bass und wenigen Handbewegungen, den peinlichen Prahler zu fangen und an einen Stuhl zu fesseln. Gefoltert wird er auf die Art, die Martin Campbell im James-Bond-Film „Casino Royale“ weichkochen soll.
Gespielt wird die Trilogie in heutiger Kleidung und einer unaufwändig-praktikabel gestalteten Bühne: in und um einen großen weißen Kasten. Der lässt sich auf verschiedene Weise aufklappen und mit Requisiten bestücken, z.B. mit ein paar Pflanzenkübeln begrünen, die die jeweiligen Orte und Situationen andeuten und Raum für die vielen Anspielungen und witzigen Aperçus der Inszenierung lassen. Gürbaca geizt nicht mit femininen oder feministisch motivierten Akzenten. Sie zeigt, dass im Hause Wotans und in der Wälsungen-Familie das Angrapschen und Vergewaltigen so endemisch ist wie bei Filmproduzenten heute. Eine besondere Bosheit ist der (erheiterte) Blick in Alberichs Unterhose anlässlich der Episode mit der klitzekleinen Kröte.
Extreme Regie und ein Fest schöner Stimmen sind kein Widerspruch
Es wird hier nicht zu viel versprochen, wenn den Opernfreunden die musikalischen Dimensionen des Trilogie-Unternehmens schmackhaft gemacht werden. Siegfried ist in Gestalt und mit der Stimme von Daniel Brenna ein betörend leichtfüßiger Held, der eigentlich nur noch in die Politik gehen müsste, um dem kommenden österreichischen Bundeskanzler Kurz das Wässerchen abzugraben. Elegant und mühelos springt er in einer wie als Parodie konzipierten Plastik-Felsenlandschaft zur wartenden Brünnhilde Ingela Brimberg hoch. Die an allen drei Abenden reichlich beschäftigte Hauptdarstellerin entwickelt in einem Quintett bemerkenswerter Frauenstimmen mit Kraft und Sensibilität dramatische Größe. In der Erweckungsszene wird ihr kein Brustpanzer abgenommen, sondern die Sonnenbrille, mit der sie die lange Schlafesnacht im Feuerkreis überdauerte.
Liene Kinča nutzte zuvor die ihr als Sieglinde belassenen reduzierten Auftritte, um ganz die zu hingebungsvoller Liebe befähigte Frau herauszuprozessieren, die aus ihrer durch Zwangsheirat entstandenen unerträglichen Situation ausbricht. Das Schwert Nothung, das Wotan dem doppelt rettungsbedürftigen Tenor Daniel Johansson im Zweikampf Siegmund ./. Hunding notgedrungen zerschlägt, wird von Siegfried nicht vollends zerrieben und neu geschmiedet, sondern dem Wunscherben in einer Traumsequenz neuerlich verliehen. Siegmund und sein Sohn wechseln bei dieser Gelegenheit die T-Shirts wie Fußballspieler die Trikots. Auf die Souveränität von Aris Argiris als Wotan wurde bereits verwiesen. Zu erwähnen ist noch, mit welcher Würde er sein Altern als rastender und fragend tastender Wanderer mit Panama-Hut am Camping-Tischchen und bis zur Demenz im Rollstuhl beglaubigt.
Insgesamt erzielen „Siegfrieds Erzählungen“ und der „Brünnhilde“-Teil der Trilogie, die sich enger an Wagners Vorgabe halten, nicht ganz den brillanten Erkenntnisgewinn des „Hagen“-Narrativs. Auch wenn gelegentlich kleinere Striche – wie im Zweiten „Walküren“-Aufzug von Takt 262 bis 480 oder von 506–518 – für Straffungen sorgen, setzt sich die Langatmigkeit der Komposition in Widerspruch zu den Fokussierungs-Intentionen der Produktion. Freilich schafft gerade auch das Schluss-Stück mit den Intrigen, Burlesken und der todesbringenden Frauen-Rivalität am Wormser Hof ein hochgradig innovatives Spannungs-Potential.
Wie schon zuletzt bei Alban Bergs „Wozzeck“, bei dem Leo Hussain im Theater an der Wien eine Schrumpf-Fassung des Orchestersatzes andiente, wurde nun auch das „Ring“-Orchester ausgedünnt. Da der Orchestergraben an der Linken Wienzeile das übliche Wagner-Orchester nicht fassen kann, ging Constantin Trinks von der 1905 entstandenen Abbass-Fassung aus, die nicht nur die Zahl der Streicher und Harfen drastisch reduzierte, sondern auch die Hörner von acht auf vier usf. Diese „schlanke“ Partitur schärft den Sound. Auch in einem kleineren Haus ist sie immer noch für größte musikalische Schrecken gut. Constantin Trinks animiert die gut fünf Dutzend Mitglieder des ORF Radio-Symphonieorchesters emphatisch – nicht erst bei Siegfrieds letztem und endgültigem Sterben (dem ein Chorist mit seinem Baseball-Schläger nachhilft). Die begeisternde Zeichengebung des Dirigenten gerät immer wieder so intensiv, überbordend, lodernd und heftig, dass zu befürchten war, den Technikern der für den Mitschnitt sorgenden Rundfunkanstalt würden die Sicherungen rausfliegen.
Lässt man die kulturpolitische Frage außer Acht, warum in Wien Werke des 18. Jahrhunderts, die für kleinere Theater geschrieben wurden, partout in der großen Halle der Staatsoper anberaumt werden und Großformatiges aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert im räumlich an Grenzen stoßenden Theater an der Wien, dann kann man Roland Geyer nur zu seinem Glücks-Zugriff auf die „Ring“-Trilogie gratulieren. Tatjana Gürbaca und ihr Team haben mit dem radikalen Angriff auf die Werkgestalt und ihrer ingeniösen Montage ihr Versprechen gehalten. Und Constantin Trinks sorgt für hin- und herreißende Intensität der Identifikations-Musik.