Es begann mit einem Stolperstein, der 2019 in Berlin-Mitte verlegt wurde. Bei dieser Gelegenheit erfuhr man, dass der jüdische Kaufmann Eugen Engel, der bis 1939 in der Charlottenstraße 74–75, unweit des Checkpoint Charlie, wohnte, auch komponiert hatte. Seine aus den USA angereisten Enkel hatten Noten mitgebracht, darunter den Klavierauszug einer Oper „Grete Minde“ nach Theodor Fontane. Die Dirigentin Anna Skryleva hörte davon, ließ sich die Noten zeigen und war sofort tief beeindruckt. Sie beschloss, dies Werk in ihrer neuen Position als Magdeburger Generalmusikdirektorin zur Uraufführung zu bringen. Dort ließ sich auch die Intendantin Karen Stone überzeugen, zumal der Oper eine Novelle zugrundeliegt, die in der benachbarten Stadt Tangermünde spielt.
Da Eugen Engel als Komponist ganz unbekannt war, begann die Chefdramaturgin Ulrike Schröder mit der Spurensuche. Bei einem Symposium berichtete sie von ihren Funden. Demnach ist Engel, 1875 in Ostpreußen geboren, 1892 nach Berlin gekommen. Dort erhielt er bis 1905 für mehrere Jahre Kompositionsunterricht bei Philipp Rüfer, einem einst angesehenen Professor am Klindworth-Scharwenka-Konservatorium, zu dessen Schülern Heinz Tiessen gehörte. Dass Rüfer ein begeisterter Wagnerianer war, ist den überlieferten Werken Eugen Engels, außer der Oper vor allem Lieder, anzumerken. Neben seinem Hauptberuf als Textilkaufmann hat Engel komponiert und auch mit Laienorchestern zusammengearbeitet. Sein großer Traum war jedoch die Oper. Um 1914 muss er den aus Magdeburg stammenden Schriftsteller Hans Bodenstedt beauftragt haben, Fontanes Novelle „Grete Minde“ zum Libretto umzuarbeiten. Lange und mit großer Sorgfalt hat Engel an seiner spätromantischen Partitur gefeilt. Als er sie 1933 endlich vollendet hatte, gab es keinerlei Aufführungschancen mehr für Werke jüdischer Autoren. Engel trat dem Jüdischen Kulturbund bei, bemühte sich aber um eine Aufführung im Ausland. Trotz seiner Kontakte zu Leo Blech und Bruno Walter kam sie nicht mehr zustande. 1939 emigrierte Engel in die Niederlande, wo seine Tochter bereits lebte. Während dieser die Flucht in die USA gelang, wurde er selbst 1943 in das Vernichtungslager Sobibor deportiert.
Als Eugen Engel die Fontane-Novelle zum Opernstoff wählte, mag er sich an seinen überwiegend protestantisch geprägten Geburtsort erinnert haben, wo er zur jüdischen Minderheit gehörte. Die historische Grete Minde lebte am Vorabend des 30-jährigen Krieges, als religiöse Spannungen zur Gewalt führten. Wegen ihrer verstorbenen katholischen und zudem fremdländischen Mutter galt sie unter den Protestanten von Tangermünde als Außenseiterin. Von ihrem Halbbruder Gerdt und dessen Frau Trud wurde sie verachtet. Liebe fand sie nur bei Valtin, dem Sohn einer Nachbarin, der sich seinen Lebensunterhalt als Puppenspieler verdiente. Mit ihm floh Grete aus der Stadt und lebte nun unter dem fahrenden Volk. Valtin erkrankte und beschwor vor dem Tod seine Frau, mit dem Kind nach Tangermünde zurückzukehren. Dort aber wurde Grete weiterhin nicht akzeptiert und schließlich um ihr väterliches Erbe betrogen. Bei Fontane zündet sie aus Not und Rache die Stadt an und findet im Kirchturm den Tod.
In der großen dreiaktigen, mit dreizehn Solopartien, Chor und großem Orchester besetzten Oper stehen immer wieder einzelne Protagonisten dem Volk, dargestellt vom Chor, gegenüber. So folgt gleich zu Beginn einem Frühlingslied Gretes ein Auftritt der Puppenspieler vor den Stadtbewohnern – eine Szene, die sprachlich und musikalisch an die „Meistersinger“ erinnerte. Ein Puppenspiel über das Jüngste Gericht nimmt das spätere Schicksal Gretes vorweg. Begleitet von einem Bläserchoral setzt sich Pastor Gigas bei Gerdt und Trud Minde für Grete ein, jedoch vergeblich. Der zweite Akt spielt im Gasthof zu Arendsee, wo robusten Kneipengesängen das intime Miteinander des jungen Paares mit seinem neugeborenen Kind gegenübersteht.
Reiche Harmonik
Hier beeindruckten ein zartes Wiegenlied und ein von Hörnern und Streichern begleiteter Liebesgesang. Valtin (Zoltán Nyári) stirbt und wird auf dem Friedhof des katholischen Klosters bestattet. Dazu ertönte ein Grabgesang mit Glocken und Pauken. Zu den musikalischen Höhepunkten gehörten das spannungsvolle Orchestervorspiel zum dritten Akt und der Gesang, in dem sich Grete zur Rache entscheidet. Vor allem in der reichen Harmonik geht die Musik hier über Wagner und Strauss, über „Walküre“ und „Salome“, hinaus. Zur großen Oper wurde dann auch der Schluss mit dem Gegenüber von orchestraler Feuermusik und hinter der Bühne gesungenem Choral „Mitten wir im Leben sind“.
Dass diese Uraufführung zu einem bedeutsamen Erfolg wurde, verdankte sich in erster Linie der Dirigentin Anna Skryleva, die sich von Beginn an für dieses Werk einsetzte, das Notenmaterial erstellen ließ, darin einige Retuschen anbrachte und gründlich probte. So kam es trotz der großen Orchesterbesetzung mit vier Hörnern, dreifachen Holzbläsern und zwei Harfen zu einem transparenten und ausbalancierten Klang, gegenüber dem sich die Gesangssolisten gut behaupten konnten. In der durchweg überzeugenden Besetzung ist vor allem die sängerisch und darstellerisch überzeugende Raffaela Lintl als Titelfigur zu nennen. Ebenso glänzte der Chor.
Mahnmal gegen Vorurteile
Das Bühnenbild (Nicola Turner) zeigte anstelle der mittelalterlichen Stadt eine kahle Gefängniswand, die teilweise für Projektionen durchsichtig wurde. Mit einzelnen Elementen (Kofferberge und eine kurze Filmeinblendung mit Wehrmachtsoldaten) spielte die Regie (Olivia Fuchs) diskret auf das Schicksal des Komponisten an. Eugen Engels erstaunlicher Opernerstling, der in Magdeburg so wirkungsvoll aus der Taufe gehoben wurde, ist ein Mahnmal gegen soziale Vorurteile und religiöse Intoleranz, nicht zuletzt aber eine musikalische Entdeckung. Mit Theodor Fontane verbindet sich damit heute neben Siegfried Matthus und Detlev Glanert der Name eines dritten Komponisten.