In Thüringen sind diese „Meistersinger“ ein Politikum der etwas anderen Art. Jenseits aller inhaltlichen Sprengkraft hat das Zustandekommen speziell dieser Inszenierung kulturpolitische Brisanz. Die Koproduktion zwischen den Häusern in der Thüringer Landes- und der deutschen Klassikerhauptstadt erinnert per se an die jahrelangen, immer wieder neu entfachten Diskussionen, über deren Zusammenlegung. Was noch jedes Mal mit einem Riesenzoff endete. War jetzt bei den Chören und der Besetzung die (naheliegende) Kooperation in Erfurter live zu erleben, so wird bei der Übernahme nach Weimar im November die dortige Staatskapelle (die Nummer eins der Thüringer Orchester) und ihr Generalmusikdirektor Kirill Karabits im Graben übernehmen. Was dann doch die Grenzen der Fusionsambitionen mehr als verdeutlicht.
Wie dem auch sei – die Erfurter GMD Joana Mallwitz und die geballte Orchesterkraft des Philharmonischen Orchesters Erfurt und der Thüringen Philharmonie Gotha hatten jetzt das Recht der ersten Nacht. Sie füllten das Haus angemessen, ließen den Sängern den Vortritt, so dass die noch zu hören waren, selbst wenn sie mal wie Sachs von ganz hinten singen mussten. Bei der Prügelei am Ende des zweiten Aktes, bei der mehr aus den Fugen zu geraten schien, als beabsichtigt, überflutete das, was von der Bühne kam sogar den Graben. Mallwitz war auf unpathetischen und aufgelichteten Klang aus, dirigierte präzise und elegant wie man das bei ihr gewohnt ist. Die charismatische Überzeugungskraft, die ihr bei Mozart oder Verdi bisher gelang, muss in Sachen Wagner wohl noch reifen. In München hat Kirill Petrenko gerade mit seinem Orchester auf eine atemberaubende Weise vorgeführt, wie differenziert Wagner im Graben zu erzählen vermag und welche Spannung man allein damit erzeugen kann.
Die Komödie im Visier
In Erfurt hat man musikalisch und szenisch eher die Komödie im Visier, trifft sie aber nicht immer überzeugend. Und das, obwohl Regisseurin Vera Nemirova in ihrer Personenführung hoch souverän ist. Zu oft ist sie dabei aber auf der Suche nach der komischen Pointe im Einzelnen: Mit einer Seufzerzugabe hier, einem demonstrativen Hinschmeißer da. Das lässt man sich bei Bjorn Waag gerne gefallen. Sein Beckmesser geht zwar beim Wettsingen als Verlierer vom Platz, als Komödiant im besten Sinne ist er der Sieger des Abends, weil seine Figur der Regisseurin am interessantesten geraten ist. Waag ist allerdings auch ein Sängerdarsteller, der das ausfüllt und gelegentlich sogar überschreitet. Vom russischen Roulette aus Verzweiflung, bis zu seinen durchchoreographierten Showauftritten vor Evas Fenster oder auf der Festwiese. Ihm ist es auch vorbehalten, das Vorspiel des dritten Aufzuges vor einem nicht vorhandenen Orchester zu dirigieren. Bis er seinen Wahn bemerkt und sich einem Plan B widmet.
Eine gute Idee ist auch die kleine Eva, die vor der Ouvertüre Seumes „Wo man singt, da lass dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder“ in den Raum stellt, was im ersten Teil so gut klingt, wie es im zweiten schlicht falsch ist. In seinem Wahnmonolog singt Sachs dieses imaginäre Mädchen an. Die personifizierte Unschuld als reine Einbildung? Beckmesser schafft es sogar, die erwachsene Eva beim Ständchen auf der nächtlichen Gasse aus ihrem Liebesversteck hinterm Sofa, in das sie sich mit Walther verkrümelt hatte, zu einem gemeinsamen Bodenkullern zu verführen. Zumindest sieht es für uns so aus. Auch bei seinem Preislied bezieht er Eva für Augenblicke mit einem gemeinsamen Tanz in seine seltsame Showchoreografie ein. Dieser Beckmesser hat erhebliches komödiantisches Eigengewicht. Ihm sitzt sogar der Revolver locker, für eine Runde russisches Roulette mit sich selbst, als er bei Sachs auftaucht, und denkt, dass er am Ende ist. Und dann noch einmal auf der Festwiese, als er bemerkt, wie er sich zum Affen gemacht hat, und seine Show mit einer Stripp-Einlage und obszönen Paarungsgesten auf offener Szene gekippt ist.
Radau mit Schlägerei
Doch in den beiden per se politischen Massenszenen in der Prügelfuge und beim Aufmarsch auf der Festwiese, spitzt die Regie zwar den Mund, aber sie pfeift nicht. Die Johannisnacht ist ein jugendlicher Radau mit Schlägerei um eine Frau. Zwar zieht dann auch Rauch aus den Fenstern und am Ende züngeln die Flammen. Das wäre ein starkes Bild (mit der Erinnerung an brennende Ausländerwohnblocks). Nur beglaubigt das der ganze Kontext nicht. Das potenzielle Menetekel züngelt einfach nur in der Kulisse. Und dann fallen alle wie im Vollrausch um. Der Rest ist ein geballt wogendes Tableau, bei dem man mit Wehmut an Katharina Wagners Happening in der Kunstakademie zurückdenkt.
Die Bühne von Tom Musch assoziiert ebenso die ungefähre Nachkriegszeit wie das Einheitsbeige der Kostüme von Marie Thérèse Jossen. In der ersten Szene als ein Saal, in dem ein Film über das zerstörte Nachkiegsdeutschland läuft. Vermutlich jedenfalls, denn vom rechten Viertel des Auditoriums aus, ist das nur zu erahnen. Die nächtliche Gasse hat den ästhetischen Charme industrieller Fassadenelemente inklusive eines beweglichen SACHS-Werkstatt-Wohn-Turms. Der dritte Akt spielt in einem Orchesterprobenraum samt Podium für die Sänger und im Zuschauerraum.
Und die Sänger? Frank van Hove ist kein typischer Wohlklang-Sachs. Eher der kommunikative Intellektuelle, der halt nebenbei auch schustert und offensichtlich für Eva eine ernstzunehmende Alternative wäre. Vazgen Ghazaryan und Alik Abdukayumov führen als Pogner und Kothner die Meisterriege an. Heiko Börner geht bis an seine Grenzen, spart aber geschickt für Walther von Stylings große Auftritte. Ilia Papandreou und Stéphanie Müther sind die optimale Erfurter Eva und Magdalene.
Das Verblüffendste an diesen Erfurter „Meistersingern“ ist die politische Unverbindlichkeit, mit der sich Vera Nemirova bis zum Finale auf der Festwiese durchjongliert. Erst ganz zum Schluss kriegt sie die Kurve. Allein und verlassen hält Sachs seine Ansprache, die ja als Diskursangebot viel Bedenkenswertes bietet und nur als Rede vorm Volk aus dem Ruder laufen kann (die Erfurter können derzeit, öfter als vielen lieb ist, live studieren, wie so war funktioniert). Doch dann steht der Chor plötzlich rechts und links neben uns und donnert von da aus seine Zustimmung so laut in den Saal, dass es Sachs in den Ohren gellt und er sich vor Schmerzen krümmt. Dieses „Die Geister, die ich rief …“ ist eine treffende Schlusspointe, zu der man gerne auch die komplette Inszenierung gesehen hätte.
Am Ende Jubel für die Interpreten, unter die sich deutliche Buhs fürs Regieteam mischten.
- Weitere Vorstellungen: 3., 5., 8., und 11. Juni 2016, in Weimar ab 5. November 2016