Seit Florian Lutz und seine Truppe 2016/17 die Oper in Halle übernommen haben, ist sie wieder ein Ort der Auseinandersetzung. Hier wird nichts mehr einfach so durchgewinkt. Alles, was gemacht wird, erzeugt Reibung. Mit den Erwartungen des Publikums. Im gesellschaftlichen Diskurs. Dazu kommt seit einiger Zeit auch (kommunal-)politischer Gegenwind. Halle wollte zwar mit dem Slogan „Halle, die vernetzte Stadt“ Kulturhauptstadt Europas werden, bekam aber dann nicht mal ein schon geplantes und von der Bundeskulturstiftung und dem Land unterstütztes Festival im geschichtsträchtigen Interhotel (bzw. kurzzeitigen Flüchtlingsheim) „Maritim“ gleich neben dem Bahnhof auf die Reihe.
Die zurückliegende erste Spielzeit brachte der Oper jedenfalls, vor allem mit den Projekten, die in der (gerade für den Theaterpreis FAUST nominierten) Raumbühne „Heterotopia“ spielen, wieder überregionale und kommunale (!) Aufmerksamkeit ein. Dass es dabei neben Gelungenem auch Flops gab, ist die Kehrseite von Risikobereitschaft und Erneuerungsmut. Eine regelrechte Kampagne im Lokalteil der Mitteldeutschen Zeitung (nicht im Feuilleton!) jonglierte dann, deutlich vor der für Bilanzen üblichen Zeit, mit gewaltigen Besucher- und Einnahmeeinbrüchen und orakelte über die baldige Insolvenz der GmbH, in der in Halle alle Sparten zusammengeschlossen sind. Mit der vorhersehbaren Folge, dass in den Leserbriefspalten für diese „Diagnose“ vor allem der ästhetische Kurswechsel der künstlerischen Leitung verantwortlich gemacht wurde. Es gab natürlich auch Gegenstimmen. Aber die „Buhs“ sind ja immer lauter zu vernehmen, als der Beifall und die Zustimmung.
Hinzu kommt, dass der vom Oberbürgermeister und Aufsichtsratsvorsitzenden der TOOH als Geschäftsführer der GmbH nach Halle importierte Stefan Rosinski zu all dem demonstrativ schwieg und die Oper so im Gegenwind stehen ließ, dass da leicht der Verdacht aufkam, er würde selbst an der Windmaschine drehen. Zum Beginn der zweiten Spielzeit steht jedenfalls immer noch eine ziemlich deutliche (in Rundfunk und Presse mittlerweile ausführlich kolportierte und kommentierte) Misstrauensbekundung der Chefs von Oper, Schauspiel und Orchester ihm gegenüber im Raum, die bislang intensiv ignoriert wird.
Fidelio und die Kommunalpolitik
Was das alles mit „Fidelio“ zu tun hat? Eigentlich nichts. Und doch alles. Denn die Eröffnungsinszenierung von Florian Lutz beschäftigt sich auch damit. Der Intendant nimmt sich als Regisseur die Freiheit, Beethovens Befreiungsoper schlechthin, ganz persönlich zu nehmen. Doch zunächst nimmt er den legitimen (und artikulierten) Wunsch seines Publikums nach Opulenz und Bühnenverzauberung ernst. In einer (übrigens beispielhaft kritisch konstruktiven Publikumsdiskussion im Mai) hatte er eine „schöne“ Oper versprochen. Und jetzt geliefert. Nun ist Knast ja per se das Gegenteil von schön. Gemeint war da natürlich die Wirkung der Bühne jenseits einer Diskurs-Kargheit, bei der man gelernt hat, sich seinen Teil dazu zu denken. Und Kostüme jenseits der second hand oder Alltagsklamotten-Mode, der man heute in jeder Oper begegnen kann.
Martin Miotk hat ein naturalistisches Gemäuer mit großer Treppe, Eisentoren und rumliegenden Skeletten bauen lassen. Wo Jaquino mit Marzelline in einer Singspielmanier und -Aufmachung flirtet, die man sich auch bei Otto Schenk vorstellen könnte. Die hat sich da längst für Fidelio entschieden. In einem Videofilm zur Ouvertüre haben wir zuvor gesehen (Video: Iwo Kurze), wie diese Frau zu ihrem Job und in die Männerklamotten geraten ist. Anke Berndt war mit ihrer barocken 30kg Prachtrobe und mit sagenhafter Haartracht aus dem Theater gerannt, um verzweifelt das Gefängnis zu suchen, in dem ihr Florestan schmort. Sie findet einen alten Plan von Halle, auf dem auch Pizarros Staatsgefängnis in der Nähe der Burg Giebichenstein eingezeichnet ist. Es ist die alte Bankiersvilla auf dem Uferfelsen der Saale. Wenn sie dort hineingeht, kommt sie auf der Bühne mit ihrer Piranesi-Anmutung am oberen Ende der Riesentreppe an, entsorgt ihren barocken XXL-Reifrock Richtung Schnürboden und wird zu Fidelio. Dieser Einstieg ist ein Coup.
Der nächste ist der Auftritt von Don Pizarro. Auch er zunächst im Video. Gerd Vogel in der Aufmachung eines Barockfürsten. Hier nun macht Lutz aus der Not der problematischen Sprechtexte im Libretto von Josef Sonnleithner und Co. und der Praxis der Regisseure, sie zu verändern, wegzulassen oder neu zu erfinden auch für sich eine Tugend. Denn dieser barocke Don Pizarro redet ziemlich heutig über die Krise des Wohlfahrtsstaates und über die Spar- und Konsolidierungskonzepte fürs Theater. Wenn er seinen ersten Auftritt in Galauniform hat, ist auch das eine pure Augenweide.
Natürlich spielt die Regie mit dieser historischen Opulenz (ohne sie zu desavouieren) einer überlieferten Operntradition von einst. Lutz bleibt dennoch bei seinem Credo, Oper für uns im Hier und Heute zu machen.
Gefährdete Freiheit
Freiheit ist nicht nur – wie einst bei Florestan – die, deren Verlust ans Leben geht. Sie ist auch die der Märkte und des Geldes, die die Freiheit, Oper und Theater zu machen, gefährdet. Dieser Pizarro entpuppt sich schnell als der Prototyp des Sparkommissars. Alles was nicht niet- und nagelfest ist, landet bei den Experten von „Bares für Rares“ auf der Theke. Die Verträge für die Festangestellten im Papierkorb. Marzelline darf sich als Putze, Jaquino als Bote und Rocco beim Sicherheitsdienst in dem Theaterunternehmen neuen Typs verdingen. Und der Intendant und seine rechte und linke Hand sind eh in ihrem Büro quasi unter Hausarrest. Wenn dieser Don Pizarro als rabiater Konsolidierer mit Personalhoheit und Abbauehrgeiz im Kerker, sprich im Büro des Intendanten auftaucht, dann bleibt einem das Lachen im Halse stecken. Dort brüten ein Florestan, der aussieht wie Florian (Lutz) mit seinen Mitstreitern, die aufs Haar wie Michael von zur Mühlen und Veit Güssow aussehen, über Zahlen, Akten und Briefen (welchen wohl?). Nebenbei versuchen sie noch eine Inszenierung zu erarbeiten. Das funktioniert in der Übertragung verblüffend. Wenn man die Situation, die dahinter steht, mitdenkt, muss man eher sagen: beängstigend gut. Dass Pizarro übers „narzisstische Stadttheater“ schwadroniert, wird zu einem bösen Witz, weil es daran erinnert, dass der eigene GmbH Geschäftsführer sich mit einem Essay übers „depressive Staatstheater“ zu profilieren trachtet. Um dieses „Who is Who“ als akute Notwehr zu entschlüsseln, braucht’s für Piazarro keine zweite Perücke. Wer die Beteiligten kennt, erkennt sie auch so. (Und zum Glück für uns alle, ist die Freiheit der Kunst ja auch in Halle an der Saale mit Verfassungsrang geschützt!)
Auswärtigen Besuchern mag sich der konkrete Hintergrund nicht von selbst erschließen. Auch kann man es natürlich eitel finden, wenn sich ein Regisseur gleichsam selbst in der Rolle des Bedrängten in einer eigenen Inszenierung mitspielen lässt. Aber es ist wirklich gut gemacht und Hans-Georg Priese (der einzige Gast der Produktion) kriegt das nicht nur darstellerisch überzeugend hin.
In dieser Kerker- bzw. Intendantenbüroszene gibt es auch ein gerüttelt Maß an Selbstironie. Wenn Anke Berndt (die sozusagen als personifizierte Oper in ihrem Fidelio-Kostüm bleibt) ein Plakat der Veranstaltungsreihe „Kunstwerk der Zukunft“ erblickt und das Bühnen-Alter-Ego des Chefdramaturgen Michael von zur Mühlen mit den Worten erschießt, „Das ist für das Kunstwerk der Zukunft“ gibt es heftigen Applaus. Fürs Publikum war diese Szene wohl ein Signal, dass Kritik auch bei den Opernmachern ankommt und diese damit souverän umgehen können.
Selbstironie
Und wie kommt man von da zum Befreiungsfinale mit all seinem ‚Heil‘, dem ‚holden Weib‘ und der ‚Retterin des Gatten‘? Auch das gelingt erstaunlich gut, obwohl die Musik da einige Male unterbrochen wird. Für Volkes Stimme auf dem Video (und einem empörten Zwischenrufer im Saal). Auf der Bühne hat der Chor jetzt wieder in barocken Kostümen und Perücken Aufstellung genommen (Rustam Samedov hat ihn einstudiert und das Finale gelingt in Hochform) – die Protagonisten stehen davor an der Rampe. Überblendet wird das mit Interviews, in denen Hallenser auf dem Markt und in der Ulrichstraße sagen, was Freiheit für sie ganz persönlich bedeutet und welche Erfahrungen sie damit haben. Das ist zum Teil Polemik, zum Teil Übersetzung einer Utopie ins Heute. Was gesprochen wird ist unten eingeblendet (allerdings schlecht zu lesen). Aber damit geht die Inszenierung – wie bei den gesprochenen Texten – jeder Peinlichkeit aus dem Wege und landet mitten in der alltäglichen Gegenwart! So wie das mit „Fidelio“ nur selten gelingt.
Musikalisch gibt es ein paar Abstriche. Manches ist da sicher der Premierenaufregung geschuldet. Aber die Bläser hatten nicht ihren besten Tag, das wackelte nicht nur in der Ouvertüre. Aber Christopher Sprenger bekommt die Staatskapelle zunehmend in den Griff. Mit Spielfreude und vokaler Eleganz überzeugten Ines Lex als Marzelline und Robert Sellier als Jaquino. Die beiden waren ganz selbstverständlich und unangestrengt. Darstellerisch sind Gerd Vogel als fürstlicher Manager Pizarro und Anke Berndt als Leonore/Fidelio (wie immer) eine Klasse für sich. Stimmlich gehen sie risikobereit bis an ihre Grenzen. Manchmal auch ein wenig darüber – da kann man sicher noch was nachbessern. Hans-Georg Priese setzt aufs kraftvolle Strahlen. Der Rocco von Vladislav Solodyagin und der Don Fernando Ki-Hyun Park sind verlässlich wie immer.
Die Oper Halle hat einen Fidelio zum Spielzeitauftakt, der mit Opulenz und doppeltem Boden punktet, musikalisch ausbaufähig ist und zu mancher Diskussion anregen dürfte. Über die(se) Oper und uns selbst.