Die erste Stunde gehörte einem seltenen Gast im sommerlichen Aix-en-Provence: Madame La Pluie ließ die Veranstalter und die vor den Absperrgittern wartenden zahlenden Gäste lange im Ungewissen. Doch dann wurden die Barockgeigen des Orchesters Pygmalion aus Bordeaux ausgepackt. Sie und die vielen prächtigen Kostüme, die unter kundiger Assistenz von Elisabeth de Sauverzac geschneidert worden waren, setzten sich dem Witterungs-Restrisiko aus. Gegen 23 Uhr begann eine Solostimme den zum Auditorium umgewidmeten Hof der Arvchevêché zu erfüllen. Sie intonierte, bald unterstützt vom Chor, ein mittelalterliches Graduale – als Einstimmung auf das Requiem von Wolfgang A. Mozart.
Ouverture spirituelle
Raphaël Pichon, ein Eleve der Nachwuchs-Akademie des Festivals, reicherte die unvollendet gebliebene letzte Arbeit des Götterlieblings Amadeus abendfüllend an. Das, was dieser in Ausführung eines gut bezahlten Auftrags bei seinem Ableben hinterließ und was bereits von Franz Xaver Süßmayer sowie möglicherweise Joseph Eybler ergänzt wurde, erschien nun nochmals ergänzt durch frühere Kirchenstücke, Maurerische Trauermusik und Knabensopransolo. Die historisch informierten Streicher und Bläser der Compagnie Pygmalion waren eher bemühte als wirkungsmächtige Sachwalter der Melange. Der Chor aus Bordeaux hingegen erwies sich der durch Bewegungsanforderungen erschwerten Herausforderung vollauf gewachsen.
Romeo Castellucci, gegenwärtig in den Opern-Rankings ganz vorn, bebilderte und kommentierte auf mehreren Ebenen. Den Fluss der Musik begleitete eine männerlose Familie weißgekleideter Frauen – vier Generationen zelebrierten Leben, Leiden und Sterben. Schrifteinblendungen auf der Bühnenrückwand verwiesen auf vieles, was in der Erdgeschichte auftauchte und wieder verschwand (oder ausgelöscht wurde): Die vielfältigen Sorten Saurier, die Mamuts und andere Tier- und Pflanzensorten, menschliche Arten und Völker wie die Neandertaler, die Etrusker oder Appalachen; auch Bau- und Kunstwerke, Städte, Sprachen und Religionen.
Große Beschaulichkeit stellte sich auch durch mannigfache Zitate aus schönen Bildern von Lukas Cranach, Dürer, Botticelli etc. her bzw. durch die prächtigen Gewänder, die Balkanfolklore oder fernöstliche Rituale recycelten. Angesichts Castelluccis Begeisterung für eine neue gesellschaftliche Kollektivität durch Volkstänze hegten einige Besucher die Befürchtung, dieser Regisseur wäre neuerdings empfänglich für Gesinnungen und Sportarten, die sich in totalitären Verhältnissen großer Beliebtheit erfreuten. Es lässt sich freilich ebenso vermuten, dass ihn der branchennotorische Originalitätszwang in die Mottenkiste des Völkischen greifen ließ. Ein starker Effekt gelang ihm mit einem Erdrutsch- oder Lawinenbild. Es entsteht, indem der mit Erde und Farbe beschichtete und mit menschlichen Habseligkeiten übersäte Boden sich von unsichtbaren Mächten getrieben zur senkrechten Wand aufstellt. Alles was lag, rutscht mit zunehmender Vehemenz ab und hinterlässt nur weiße Schrunden auf der Fläche: eine starke Chiffre für „Auslöschung“.
Die recycelte Diva
Das Festival in Aix-en-Provence ist eine Errungenschaft der unmittelbaren Nachkriegszeit, inzwischen also gut siebzig Jahre alt. Es definiert sich fortdauernd als das internationale Schaufenster des französischen Opernbetriebs. Im Vorfeld der diesjährigen Ausgabe wechselte die Direktion vom belgischen Organisten und Intendanten Bernard Foccroulle zu Pierre Audi, der zuvor drei Jahrzehnte lang die Niederländische Nationaloper in Amsterdam und zeitweise auch das Holland-Festival leitete. Audi kündigte einen allfälligen Erneuerungsschub an – das gehört zu den altbekannten Ritualen nach einer solchen Amtsübergabe. Im Kontrast zu Castelluccis Reflexionen menschlicher, kultureller, ja: überhaupt irdischer Vergänglichkeit ließ er Christophe Honoré Puccinis „Tosca“ inszenieren. Diese Produktion fokussierte von Anfang bis Ende auf das Altern einer Primadonna, die blühende Jugendfrische zu verkörpern hat.
Honoré verschob die Geschichte aus der Zeit der napoleonischen Kriege und der rasch niedergeschlagenen ersten römischen Republik der Neuzeit in die luxuriöse Wohnung einer stark gealterten Star-Sopranistin. Zwischen Schwarz-Weiß-Fotos und vielerlei anderen Reliquien erinnert sich die aus New York stammende Catherine Malfitano an ihre großen Auftritte als Tosca und in anderen Opern von Puccini oder Richard Strauss. Bilder und Filmausschnitte verweisen auf gemeinsame Auftritte mit Placido Domingo und viele andere Sängergrößen des 20. Jahrhunderts. Bis hin zur Callas. Bei ihrer Erinnerungsarbeit, bei der sich die Lücken schon deutlich bemerkbar machen, wird die aus einer versunkenen Ära recycelte Primadonna liebevoll von ihrem Sohn umsorgt.
Zwei Kamerateams filmen die schöne Ruine beständig und halten auch das Geschehen um sie herum punktgenau fest. Zwischen dem vollgepackten Flügel und den weichen Sesseln finden sich Schaulustige und frühere Kollegen ein, mit denen die Malfitano das Stück rekapituliert. Vornan mit der jungen Angel Blue. Nach wenigen von Malfitano markierten Tönen steigt sie in die Partie der Sängerin Floria Tosca und die Liebesgeschichte mit dem Maler Cavaradossi ein, wird vom Polizeiminister Scarpia erpresst und sexuell genötigt. Und sie ersticht den hemmungslosen Machthaber im Notwehrexzess.
Das alles findet in den hinteren Räumen des Domizils der Diva statt. Christophe Honoré, ein Romancier und vielseitiger Kulturschaffender, der u.a. auch Oper inszeniert, hat eine im deutschen Staats- und Stadttheater längst bewährte Technik der „Musealisierung“ eines Historien-Stücks mit Geschick adaptiert. Sie bringt den kühl-technokratischen Bösewicht Scarpia in Gestalt und mit der sängerdarstellerischen Dominanz von Alexey Markov bestens zur Geltung. Nicht minder die alte wie die junge Tosca: die junge, die vor einigen Jahren Miss Hollywood war, und die Malfitano, von deren viel gerühmten Auftritten zwar nicht viel Stimme übriggeblieben ist, aber ein grandiosen Augenrollen und überhaupt eine in Großaufnahmen immer wieder sehenswerte Mimik. Nicht ganz so emphatisch kann das Urteil über das mitunter unpräzise agierende Orchester der Opéra de Lyon ausfallen und dessen medial vielleicht ein wenig überschätzten Chefdirigenten Daniele Rustoni. Er und die Musiker wurden zum finalen Suizid der Tosca auf die Bühne beordert. Ein Sprung von der Zinne wurde Signora Malfitano erspart. Sie entzieht sich durch das Öffnen der Pulsadern der irdischen Gerechtigkeit.
Einschläfern statt umbringen
Die von Pierre Audi versprochene Innovation wurde in Form der Uraufführung „Les mille endormis“ angeboten. Die Kammeroper des aus Haïfa stammenden 36jährigen Adam Maor wurde vom Librettisten Yonatan Levy im Théâtre du Jeu de Paume inszeniert. Das Duo präsentierte einen in strategischer Ratlosigkeit verstrickten israelischen Ministerpräsidenten. Drei bedrohliche Faktoren kommen für diesen zusammen: Eine israelkritische Resolution der UNO, schlechte Nachrichten des Landwirtschafts-Ministers bezüglich der trockenheitsbedingten Ernteausfälle und ein offensichtlich unerfreulicher Anruf des US-Präsidenten. In dieser Situation entscheidet die Netanjahu-Karikatur zusammen mit dem Chef des Staatssicherheitsdienstes und seiner Assistentin Nourit, tausend hungerstreikende politische Gefangene der letzten Intifada einschläfern zu lassen. Zwei Dutzend von ihnen werden sichtbar im Regierungssitz deponiert. Das zynische und beflissene Regierungs-Personal will die Sache aussitzen, bis sich die Situation beruhigt hat. Auch nach fünf Jahren kann es die renitenten Palästinenser Mangels an Beweisen nicht anklagen; frei lassen will man die „Terroristen“ auch nicht – und ihre Tötung würde international einen ganz schlechten Eindruck hinterlassen.
Aus dieser halb realistischen, halb absurden Versuchsanordnung hätte unter Einsatz geeigneter musikalischer Mittel eine brisante Operette erwachsen können, rhythmisch pulsierend, ggf. atemlos rappend und die Mittel der akademischen Avantgarde-Musik parodierend. Doch genau bei der suchte Maor kammermusikalische Zuflucht. Dass der Ministerpräsident ein Schweinehund ist, ahnen die Zuschauer nach zwei Minuten: da hätte es der Beleuchtungseffekte gar nicht bedurft, die aus seiner Visage die eines Kampfhundes machen. Indem die sedierten gefangenen Palästinenser ungeahnte psychische Kräfte entwickeln, sich einen virtuellen Blaumilch-Kanal in die jüdische Traumwelt graben und eine Epidemie der Schlaflosigkeit auslösen, entschließt sich der Machthaber der einzigen Demokratie in der orientalischen Welt zum Äußersten. Er lässt seine Vertraute Nourit als Geheimagentin ins Schläfer-Netzwerk einschleusen mit dem Ziel, den Widerstand unter Einsatz äußerster Mittel von innen her paralysieren. Doch das grundgute weibliche Wesen wird vom spirituellen Geist der Gegenseite erfasst. Und so kommt die Kammeroper zum Fazit: „Es kann keine andere Heimat für die Menschheit geben als die zwischen zwei Seelen“. Ob eine solche Absage an eine politische Lösung eines heillosen Konflikts zielführend ist, muss hier nicht entschieden werden. Dass sie aber einen zündenden Theaterabend ergibt, darf rundweg bezweifelt werden. Die gediegenen Bemühungen des Ensembles „United Instruments of Lucilin“ unter Leitung von Elena Schwarz hätten eine systemkritische und schärfer konturierte Spielvorlage verdient.
Lenz wandert übers Gebirg nach Südwest
Im Halbdunkel eines Felsenfelds arbeitet sich der unvollständig bekleidete Jakob Lenz in der Inszenierung von Andrea Breth nach vorn. Mit quälender Langsamkeit geht es über Stuhllehnen, Bock und Stein. Dank des großen Spiegels im Hintergrund sieht es zugleich so aus, als wolle sich das so sichtbar geschundene und sich schindende Wesen auch nach oben arbeiten. Von dort fällt das Alter ego der von Georg Büchner stilisierten Intellektuellen-Figur auf den harten Bühnenboden. Das Double hilft im Verbund mit den sechs Geisterstimmen und einem bläserlastigen Kammerensemble, die Geistes- und Seelenzustände jenes genialischen Sturm- und Drang-Dichters zu erkunden. Der konkurrierte in den frühen 1770er Jahren im Elsaß mit dem jungen Goethe (auch um Friederike).
Recycling pur: Wolfgang Rihms Kammeroper, die seit 2014 in Stuttgart, Berlin und Brüssel gezeigt und von Ingo Metzmacher musikalisch mustergültig vorgeführt wurde, hat nun zur Premiere in Aix das Grand Théâtre zur guten Hälfte gefüllt. Ebenfalls dort setzte Ivo van Hove den „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ steril modernistisch in Szene. Esa-Pekka Salonen veranlasste das Philharmonia Orchestra (London) zu einer stark symphonisch motorisierten Interpretation. Das Trio der Stadtbetreiber um die Sopranistin Karita Mattila war diesem Ansturm so wenig gewachsen wie den aktuellen Herausforderungen des Kapitalismus. Den Schluss der Produktion machte eine „confusion génerale“: ein filmisch überhöhter Aufruhr der Gelbwesten.
Im Jahrgang 2019 des Festivals in Aix war eine Veränderung der künstlerischen Handschrift gegenüber der Ära Foccroulle (noch) nicht zu erkennen, obwohl sich Anzeichen der sinkenden Akzeptanz mehren. Pierre Audi verzichtete heuer auf eine Pressekonferenz. Mag sein, dass die politischen Kontexte in der Provence, einer der Hochburgen des Rassemblement National, solche Zurückhaltung nahelegen oder ob die Verantwortlichen einfach (noch) nicht wissen, was wie und warum weitergehen soll. Angesichts der sich verändernden touristischen und kulturellen Konsumgewohnheiten könnte das Festival seine historische Mission als internationaler Leuchtturm der französischen Musiktheaterkultur erfüllt haben und beweglichen kleinen – regionalen und spezialisierten – Angeboten Platz machen.