[…] Das völlige Gegenstück zu diesen sinnenfrohen, ungeistigen Musikern bildet A. Schönberg. Die „3 Klavierstücke“ Wk. 11 (1910) und die Aphorismen vergleichbaren „6 kleinen Klavierstücke“ Wk. 19 (1913) sind der Inbegriff einer freudlosen, klangasketischen Musik. Sie schiert sich den Teufel um Zusammenklang der Stimmen, entschädigt aber für diese Rücksichtslosigkeit nicht im geringsten durch großzügige Linienführung, wirft vielmehr dem Spieler und Hörer nur abgerissene, zackige Motivfetzen hin. Neurasthenische, hypochondrische Musik! Am meisten faßbare, zusammenhängende Linie finde ich in Nr. 2 von Wk. 11. Wie schade, dass der frühe Schönberg der „Verklärten Nacht“ mit ihren berauschenden Klängen kein Klavierwerk veröffentlicht hat!
Die Klaviermusik der letzten Jahrzehnte
Der Schönberg-Jünger A. Berg hat bei Schlesinger eine Sonate Wk. 1 veröffentlicht, die merkwürdigerweise formal ganz konservativ und zugleich harmonisch äußerst fortschrittlich ist. Die Form ist nämlich die des Sonatenallegros, also die klassische „Sonatenform“ im engeren Sinne, sogar mit der am Ende des 18. Jahrhunderts zur Konvention erstarrten, vom „Letzten Beethoven“ meist über Bord geworfenen und in der neueren Zeit fast ohne Ausnahme beseitigten Wiederholung der Themengruppe. Es handelt sich demnach gar nicht um eine ganze Sonate, sondern nur einen Sonatensatz. I
n harmonischer Beziehung gehört Berg dem linken Flügel der Gegenwartsmusik an (nicht gerade den Kommunisten der Musik – das Werk ist nicht atonal –, aber immerhin den Unabhängigen). Die Sonate ist vorwiegend lyrisch, von einheitlicher Stimmung, ehrlich empfunden, ohne den Zug ins Experimentelle, der dem Kreise um Schönberg – wie mir scheint nicht mit Unrecht – nachgesagt wird; übrigens weiß ich nicht, ob sie nicht schon vor der ziemlich späten Bekanntschaft des Autors mit Schönberg entstanden ist, und wie er sich darnach weiterentwickelt hat. […]
Walter Georgii, Neue Musik-Zeitung, 44. Jg., 6. September 1923 [keine Ausgaben erschienen bis April 1924]
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