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Die Klippe des Mythos umschifft

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Hans Werner Henzes Zehnte Sinfonie erklang in Luzern und Lübeck
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„Wer über die Neunte hinaus will, muss fort,“ raunte einst Arnold Schönberg am Grabe Gustav Mahlers. Seit Beethoven mit seiner Neunten sein sinfonisches Œuvre abschloss, gab es den Mythos der Neunzahl; heute eine eher anekdotische Größe.

„Wer über die Neunte hinaus will, muss fort,“ raunte einst Arnold Schönberg am Grabe Gustav Mahlers. Seit Beethoven mit seiner Neunten sein sinfonisches Œuvre abschloss, gab es den Mythos der Neunzahl; heute eine eher anekdotische Größe. Als der Schweizer Kunstmäzen Paul Sacher 1997 in Berlin Hans Werner Henze nach der Uraufführung von dessen Neunter diesen aufforderte, doch gleich mit einer nächsten zu beginnen, war der Mythos nur noch augenzwinkernd gegenwärtig. Und Henze selbst, jeglichem Mystizismus abhold, ließ sich gemächlich Zeit für seine Zehnte, die 1998-99 entstand und dann sogar noch drei Jahre in der Schublade lag, bis endlich nun, am 17. August in Luzern, die Uraufführung stattfand, der einen Tag später, im Rahmen des Schleswig Holstein Musik Festivals, die Deutsche Erstaufführung in der Lübecker Musik- und Kongresshalle folgte. Beide Male mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra unter Sir Simon Rattle. Rattle kann auch als zweiter „Geburtshelfer“ des Werkes gelten, hatte er doch Henze um ein Werk für sich und sein Orchester aus Birmingham gebeten. „Sogleich“ erinnert sich Henze „hörte ich Kristallenes und Klares und Englisches in meinem inneren Ohr.“

Dass Henzes Zehnte dann ein „klassischer“ Viersätzer wurde, hat allerdings mit der Tradition der Gattung nur noch bedingt etwas zu tun. Statt der von Brahms herrührenden und von Schönberg gerühmten „entwickelnden Variation“ des Formaufbaus finden sich hier sehr subjektive und in sich unterschiedene, aber jeweils auf eigene Weise doch auch streng strukturierte imaginäre Theaterszenen, was die Titel der Sätze „Ein Sturm“, „Ein Hymnus“, „Ein Tanz“ und „Ein Traum“ schon andeuten.

Das groß besetzte Orchester entfaltet im ersten Satz ein weiträumiges Bild gegensätzlicher „Lebensstürme“, die aber nicht so sehr spektakulär nach außen gewendet erscheinen als vielmehr reflektiert und im Rückblick des „sinfonischen Helden“ gemildert und die auch am Ende elegisch verhallen, ein Decrescendo, das sich in allen anderen Sätzen wiederfindet.

Der „Hymnus“, nur für ein vielfach geteiltes Streichorchester, evoziert mit seinem teils süffigen, teils auftürmend-drängenden Klang wohl ein wenig das berühmte „Adagietto“ aus Mahlers Fünfter, aber in der dunkel grundierten Harmonik durchaus auch die brütenden Stimmungen aus „Central Park in the Dark“ von Charles Ives. Exzessiv, mal lustig, mal diabolisch wild, dann „Ein Tanz“, nur für Blechbläser, Schlagzeug und Kontrabässe, und auch hier drängt sich als Parallele ein Werk von Mahler auf: die hintersinnige, in einem dämonischen Totentanz endende „Burleske“ aus dessen Neunter Sinfonie.

„Ein Traum“ beginnt dann eher düster, entfaltet sich dann zu beschwörender Klang-Opulenz, zu lebenssüchtiger Konkretheit, die jedoch etwas Retrospektives an sich hat, gleichwohl aber nicht bei beschönigender Altersweisheit stehenbleibt: der Schluss, auch hier ein langsames Ausblenden der verschiedenen Instrumentengruppen, erscheint als fragende Ungewissheit, die das Nachdenken fordert.

Henzes Zehnte bietet keine platte „Lösung“ oder gar Erlösung an – die imaginäre Szene bricht gleichsam im Dialog ab. Dennoch ist das Konzept schlüssig, denn Henze weiß genau, was und wieviel sein klanglich-strukturelles Material hergibt, und er formt alle Sätze des knapp 40-minütigen Werkes wohlproportioniert und nachvollziehbar. Innovativ ist ein solches Werk nicht so sehr im äußeren Gesamteindruck als vielmehr in kleinen, akkurat ausgehörten und blendend formulierten und instrumentierten Details. Gerade das sind aber die Qualitäten dessen, was man gemeinhin als „Alterswerk“ bezeichnet.

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