Das alljährliche Komponistenporträt des Philharmonischen Staatsorchesters Mainz hat ein besonderes Profil. Die eingeladene Künstlerpersönlichkeit soll sich nämlich dirigierend, singend oder am Instrument präsentieren und auch im Gespräch Rede und Antwort stehen. Das seit 2015 etablierte Format besteht aus einem zweimal gespielten Sinfoniekonzert und einem Werkstattkonzert im Staatstheater sowie einem Kammerkonzert mit anschließender Gesprächsrunde in der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz. Weitere Kooperationspartner sind der Radiosender SWR Kultur, der Landesmusikrat Rheinland-Pfalz und – in diesem Jahr – der Mainzer Musikverlag Schott. Diesjähriger Gast war der Klarinettist und Komponist Kinan Azmeh (Jg. 1976).

Kinan Azmeh mit dem Philharmonischen Staatsorchester Mainz während seines Klarinettenkonzerts. Foto: © Anneliese Schürer
Die Kraft der Begegnung in Musik und Gespräch – Das Komponistenporträt Kinan Azmeh beim Philharmonischen Staatsorchester Mainz
Der gebürtige Syrer begann seine musikalische Ausbildung in seiner kulturell offenen Heimatstadt Damaskus. 1998 ging er zum Studium an die Juillard School nach New York City, wo er noch heute seinen Lebensmittelpunkt hat und sich als Brückenbauer zwischen den musikalischen Kulturen betätigt und versteht. Hermann Bäumer, der Mainzer GMD, hat für das sorgfältig zusammengestellte Programmheft eigens ein Interview mit Azmeh geführt. Darin erklärt dieser: „Meine Musik ist einfach von dem inspiriert, was ich kennengelernt habe: Arabische Modi, westliche Harmonie, indische Rhythmen, Jazz-Improvisationen, balkanische Virtuosität, und die Liste lässt sich natürlich noch erweitern. All das geschieht mit der Seele eines Damaszeners New Yorkers.“ Bäumer, der nach 14 erfolgreichen Mainzer Jahren zur kommenden Spielzeit als Musikdirektor an die Staatsoper Prag wechselt, lässt es sich beim Werkstattkonzert nicht nehmen, die persönlichen Verbindungslinien zu Azmeh nachzuzeichnen – vom Morgenland-Festival in Osnabrück 2006 über das spontan zugesagte Mainzer Gastspiel in einem Begrüßungskonzert für syrische Flüchtlinge 2015 in Mainz bis hin zur aktuellen harmonischen Zusammenarbeit mit dem Staatsorchester und dem Landesjugendorchester Rheinland-Pfalz. Dass er noch einmal das Landesjugendorchester dirigieren kann, würdigt der scheidende GMD ebenfalls. Schließlich sei es das erste Ensemble gewesen, das er als gelernter Posaunist offiziell habe dirigieren dürfen – damals angekündigt mit der geheimnisvollen Formel: „Es kommt ein Dirigent, der eigentlich gar kein Dirigent ist.“
Azmeh und Ravel – kein Beethoven
Alle drei Konzerte sind gut besucht. Im Sinfoniekonzert bewährt sich die schon von Bäumers Vorgängerin Catherine Rückwardt angebahnte und dann konsequent ausgebaute Strategie, immer wieder Werke abseits des Standardrepertoires zu präsentieren. (Die übrigens, wie der GMD auf Nachfrage berichtet, in 14 Jahren so gut wie keine Abonnements-Kündigungen auslösten.) Das neugierig gewordene Stammpublikum bleibt dem Philharmonischen Staatsorchester treu, und zusätzlich haben sich weitere Interessierte eingefunden, darunter sichtlich einige von nahöstlicher Herkunft. Das Programm rahmt Kinan Azmehs 2019 entstandenes Klarinettenkonzert und das gemeinsam mit seiner Frau Layale Chaker komponierte Doppelkonzert für Klarinette und Violine aus dem Jahr 2023 mit zwei Kompositionen des diesjährigen Jubilars Maurice Ravel (1875-1937) ein. Zu Beginn erklingt die bildreiche Ouvertüre „Scheherazade“, Ravels erstes erhaltenes Orchesterwerk überhaupt. (Im Gegensatz zum sechs Jahre später entstandenen Liederzyklus gleichen Titels und zu Nikolai Rimsky-Korsakows gleichnamiger Orchestersuite von 1888 ist sie im Konzertsaal eine Rarität geblieben.) Den Abschluss bilden die „Valses nobles et sentimentales“ von 1912 – eine Folge feinsinniger Miniaturen. Beide Werke könnte man als sentimentalisch (nicht: sentimental!) im Sinne Friedrich Schillers charakterisieren: Sie sind nicht unmittelbarer Selbstausdruck des Künstlers, sondern Reflexion – einmal über die faszinierende, märchenhafte Welt des Orients, das andere Mal über das aus den Trümmern des Ersten Weltkrieges noch hervorleuchtende Wien von Franz Schubert und Johann Strauß. Das Programmheft zitiert den französischen Musikkritiker Pierre Lalo, der an „Scheherazade“ die „Instrumentation voller raffinierter Neuigkeiten und pikanter Klangwirkungen“ rühmte, aber hinzufügte: „Es ist zu hoffen, dass Ravel die Einheitlichkeit nicht verschmähen und sich öfter an Beethoven erinnern wird.“
An diesem Einwand ist etwas dran, und er lässt sich auch auf Azmehs Kompositionen übertragen, die man im Schillerschen Sinne (nicht abwertend!) als „naiv“ bezeichnen könnte – als Werke eines Menschen, der zumindest beim Komponieren und Spielen mit sich und der Welt im Reinen ist. Man findet keine Dramatik, kein Ringen, keine motivisch-thematische Arbeit, keine spürbar ausgetragenen Gegensätze, keinen musikalischen Sog auf ein Ziel hin, und auch keine Ironie, wie sie für das sinfonische Format seit Beethoven so prägend waren. Die Grundhaltung der Musik ist lyrisch oder tänzerisch, das Orchester begleitet eher, als dass es eingreift, und Azmehs ansprechender Klarinettenton ist eher sanft, duftig und liebevoll als schrill und aggressiv. Als angemessene Hörhaltung erscheint, da man in den Sitzreihen des Staatstheaters oder der Akademie gewöhnlich nicht tanzt oder mitsingt, das genießende, nachdenkliche oder träumerische Sich-Zurücklehnen. So ist es denn auch kein Wunder, dass beim Werkstattkonzert Bäumers Aufforderung ans Publikum, eine rhythmisch prägende Passage aus der „Suite for Improviser“ von 2007 probeweise mitzusingen, auf wenig Resonanz stößt. Dabei wünscht sich Azmeh selbst, wie er in der Gesprächsrunde nach dem Kammerkonzert bekennt, die Hörer eher vorne auf der Stuhlkante als zurückgelehnt.

Kinan Azmeh und GMD Hermann Bäumer im Werkstattkonzert mit dem Landesjugendorchester Rheinland-Pfalz. Foto: © Anneliese Schürer
Musikalische Charakteristika
Vermutlich sind es drei Charakterzüge von Azmehs Musik, die prinzipiell spannend sind und einem mitteleuropäischen Konzertpublikum noch stärker transparent gemacht werden müssten. Einer ist das improvisatorische Element, das ihm sehr wichtig ist, damit sich die Interpreten die Musik auch wirklich zu eigen machen. Anders als im Jazz tut sich man sich in der Klassik-Szene damit immer noch schwer. „Professionalisierung und Perfektionierung haben ihren Preis“, sagt SWR-Redakteurin Sabine Fallenstein beim Rundgespräch. Azmeh erinnert daran, dass wir Menschen im Leben ohnehin viel improvisieren, und dass Bach und Mozart nicht nur bedeutende Komponisten waren, sondern auch gewiefte Interpreten und Improvisatoren. Er berichtet, wie er in New York zur Mitwirkung bei einem Holzbläserquartett eingeladen war und kurz vor dem Konzert nervös wurde, weil er immer noch keine Noten in der Hand hatte. „Was spielen wir?“ fragte er, und erhielt zur Antwort: „Du spielst einen Ton, ich antworte mit einem anderen Ton.“ Und das sei ja im Grunde die Herausforderung: „Welchen Ton möchte ich gerne spielen?“ Tatsächlich spürt man in den Konzerten durchaus die improvisatorische Haltung - am deutlichsten im Klarinetten-Duett „A Scattered Sketchbook“, wo Azmeh mit dem Staatsorchester-Klarinettisten Ates Yilmaz in einen Dialog tritt. Man hört und sieht es aber auch im Sinfoniekonzert beim Konzertieren der Soloklarinette mit der Geige von Layale Chaker oder von Konzertmeister Mihail Katev, und im Zusammenspiel mit der einfach besetzten Holzbläsergruppe. Allerdings ist dem durchschnittlichen Hörer der strukturelle Rahmen, in dem sich die Improvisation vollzieht, weniger klar als im Jazz oder in der Klassik, und oft gehen Komponiertes und Improvisiertes bruchlos und kaum merklich ineinander über.
Spannend ist im Grunde auch, was die Musik an „orientalischen“ Spielpraktiken verlangt. Da gibt es beispielsweise im Doppelkonzert eine längere Passage, in der die beiden Soloinstrumente gegenüber dem Orchester um einen Viertelton verstimmt wirken, ohne dass es das Ohr wirklich stört. Wie herausfordernd ein 15/8- oder ein 21/16-Takt für die Interpreten sein können, macht Hermann Bäumer beim Werkstattkonzert an Beispielen deutlich. „Wenn man’s drin hat, geht’s“, bilanziert einer der jungen Musiker aus dem LJO. Aber weil es so gut geht, wirkt es eben auch selbstverständlich, nahezu unauffällig. Ein dritter Faktor von Interesse ist die Einbindung von Folklore. In der „Suite for Improviser“ finden sich im 1. Satz, „139th Street“, Reminiszenzen an arabische Musik, die Azmeh im New Yorker Stadtteil Harlem hörte. Der 2. Satz, „November 22“, ist durch die Geräusche syrischer Märkte inspiriert, und der 3. Satz, „Wedding“, erinnert an eine syrische Dorfhochzeit. In der Einleitung des Klarinettenkonzertes findet sich ein Schlaflied, das Azmeh von seinen Eltern hörte. In all diesen Kompositionen geht es nicht um Programmmusik; sie sind, um die bekannte Beethoven’sche Wendung zu zitieren, „mehr Ausdruck der Empfindung der Malerei“. Aber sie öffnen doch einem Publikum, das mit der syrischen Kultur vertraut ist, einen inhaltlichen und atmosphärischen Assoziationsraum, der europäischen Zuhörern eher verschlossen ist. Und sie zeigen, wie Hermann Bäumer im Rundgespräch bemerkte, eine Unmittelbarkeit und Unverkrampftheit im Umgang mit der eigenen Folklore, die in Deutschland erloschen ist. Nicht unterschlagen werden darf in diesem Zusammenhang der Hinweis der Würzburger Ethnomusikologin Clara Wenz, dass im Schmelztiegel des Nahen Ostens die syrische Folklore ihrerseits multikulturell geprägt ist. Im Lande werde nicht nur arabisch, sondern auch kurdisch, armenisch und sogar aramäisch gesprochen. „Alle Lieder haben einen Migrationshintergrund.“ Vor allem an diesem Punkt wäre allerdings für das Publikum eine fachlich versierte Übersetzung des vorwiegend auf Englisch geführten Gesprächs hilfreich gewesen.

Kinan Azmeh (Klavier) und Layale Chaker (Violine) beim Doppelkonzert mit dem Staatsorchester. Foto: © Anneliese Schürer
Persönliches und Politisches
Einen besonderen persönlichen Akzent setzen Ehepaar Akmeh und Chaker mit dem Doppelkonzert. Die Komposition trägt den Titel „Dawning“, also (Abend-)Dämmerung, und setzt sich aus vier Sätzen zusammen, die mit „Dämmerung“, „Oxytocin“, „Einbruch der Dunkelheit“ und „Einbruch der Nacht“ überschrieben sind. Dabei werden gleich mehrere syrische Wiegenlieder zitiert, die das Ehepaar seinem (inzwischen vier Jahre alten) Sohn vorgesungen hat, und die Satzbezeichnung „Oxytocin“ bezieht sich ausdrücklich „auf das Liebeshormon, das die Psyche der Eltern in ihren ersten Tagen überflutet.“ Hier offenbart sich ein Grad von ungebrochener Intimität, der im öffentlichen Raum eines Sinfoniekonzertes eher unüblich ist. Richard Strauss „Sinfonia Domestica“, in der er sein Familienleben zum Thema machte, wird ja bis heute unter seinen sinfonischen Dichtungen als programmatischer Ausrutscher empfunden. Azmeh empfindet das Doppelkonzert aber selbst als „eine ergreifende Erinnerung daran, dass selbst in den dunkelsten Zeiten Platz für Freude, Liebe und das Versprechen einer helleren Zukunft ist“. Möglicherweise wird hier tatsächlich das Private politisch in dem Sinn, dass die einst in der Unabhängigkeitserklärung der USA ausdrücklich formulierten „unveräußerlichen Rechte“ eines jeden Menschen auf „Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit“ eben nicht mehr als selbstverständlich gelten und verteidigt werden müssen. Dass Azmeh 2017, als er noch keine amerikanische Staatsbürgerschaft hatte, sich die Wieder-Einreise in die USA gegen das damals von Donald Trump verhängte Einreiseverbot für Syrer gerichtlich erstreiten musste, wie GMD Bäumer erwähnt, wirkt da wie ein Vorgeschmack auf gegenwärtiges und kommendes Unheil.
Er frage sich, ob die Musik der „Suite for Improviser and Orchestra“ einen traurigen oder fröhlichen Charakter habe, bekennt Bäumer. Azmeh empfindet das als treffende Wahrnehmung: „Kinder haben vielleicht klare Gefühle; Erwachsene existieren nicht im Vakuum, wir haben Gefühle immer im Kontext.“ Mit dem Bürgerkrieg in Syrien habe er für ein Jahr den Glauben an die Musik verloren, doch diese Lähmung habe er wieder überwunden. Er fühle sich nirgends so frei wie musizierend auf der Bühne. Die Kraft der Begegnung ist ihm sehr wichtig. Gemeinsames Musizieren verschaffe ihm das Gefühl von Heimat. „Jedes Mal, wenn ich in einer Stadt auftrete, habe ich das Gefühl, meinen Begriff von Heimat zu erweitern, und das vertieft sich, wenn ich in eine Stadt zurückkehre, in der ich schon einmal aufgetreten bin.“ Die aktuelle Entwicklung in Syrien verfolgt er aufmerksam. Künstlerinnen und Künstler sollten sich politisch engagieren wie andere Bürger auch. „Dieses Stück Holz und Metall“, das er bei sich trage, sei sehr mächtig. Musik erinnere uns daran, „menschlich zu sein“; sie könne die Toten zwar nicht wieder zum Leben erwecken, aber an sie erinnern. Wichtig sei ihm beim kulturellen Wiederaufbau seines Herkunftslandes die Musikerziehung; es gebe inzwischen Kinder, die noch nie in einem Konzert waren und nie die Gelegenheit hatten, ein Instrument zu spielen. „Man kann eine Gesellschaft nicht von oben herab heilen.“ Das sind Sätze, die nicht weniger nachhallen als Azmehs freundliche Klarinette.
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