Das Wort von den „Goldenen Zwanzigern“ ist schon lange eine rostbraune Metapher. Wer es hört, denkt an Theater und Varieté, an Kabarett und Chanson, an Tingeltangel und Strapse, Jazz und Swing, spürt aber das hohle Blech und weiß, so golden ist das Jahrzehnt ab 1920 gar nicht gewesen. Eine Zwischenkriegszeit, die hoffnungsvoll Reibung bot, eine kreative Phase, in der die vom wilhelminischen Ungeist zertretenen Aufbrüche des frühen 20. Jahrhunderts hätten fortgesetzt werden sollen. Gewiss hätte das eine bedeutende Ära werden können, wären nicht Europa und die Welt gleich zweimal in kürzester Zeit von deutschen Stiefeln so mörderisch getreten worden.
In Berlin blühte damals das Leben, doch es war bekanntlich ein Tanz auf dem heißen Vulkan. Denn gleich nebenan richtete erst das Preußen-, dann das Nazitum mit grausamer Macht die bis dato schlimmsten Verfallsprozesse der Kulturnation an. Sie konnten sich bei ihrem Dummenfang auf schreckliche Armut stützen, in der patriotische Propaganda und nationalistische Ideologie rasch verfingen.
Das Wort von den „Goldenen Zwanzigern“ wurde zwar früh wieder in Frage gestellt, hat sich als Inbegriff jener widerspruchsvollen Zeit aber gehalten. Kein Wunder, dass zu den diesjährigen Dresdner Musikfestspielen, die bis Mitte Juni unter dem Motto „Goldene 20er“ stattfanden, die Assoziationen ebenfalls zunächst in diese Epoche gingen. Allerdings sollte damit die These gestützt werden, dass just die 20er-Jahre auch in früheren Jahrhunderten besonders kreativ gewesen sind. Monteverdis 7. Madrigalbuch freilich entstand bereits 1619, doch immerhin erklangen mit Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ (1725) und Beethovens „Missa solemnis“ (zwischen 1817 und 1823) zeitechte Beweise. Ansonsten waren – wenig überraschend – die meisten wirklich auf die „20er“ bezogenen Programmpunkte mit dem vorigen Jahrhundert verknüpft.
Ute Lemper und Freunde (das Vogler Quartett) machten dies mit einer Hommage auf Bertolt Brecht und Kurt Weill nebst Songs von Edith Piaf und Marlene Dietrich deutlich, stellten es mit Jacques Brel und Astor Piazzolla aber sogleich wieder in Frage. Die King’s Singers huldigten den Comedian Harmonists, die sich Ende der 1920er-Jahre als wohl erste Boygroup der Welt etablierten und 1935 von den Nazis verboten wurden. Gemeinsam mit der Staats-operette Dresden erarbeitete „Radiomusiken“ von Walter Gronostay und Edmund Nick stammen ebenfalls aus dieser Ära. Ansonsten gab es unter dem (zu?) viel versprechenden Motto „Goldene 20er“ ein qualitätsvolles Programm herausragender Interpreten und Ensembles, mit dem die oben erhobene These besonderer Kreativität allerdings beliebig zerfaserte. Doch es sollte nicht nur Rückschau gehalten, sondern auch der Blick nach vorn gewagt werden. Schließlich stehen bald wieder 20er-Jahre bevor. Festspiel-Intendant Jan Vogler und sein Team wollten prüfen lassen, wie golden das nächste Jahrzehnt womöglich zu werden verspricht. Dazu initiierten sie das Projekt „Bohème 2020“, sicherten sich die Unterstützung der Stiftung Kunst und Musik für Dresden und namentlich das Patronat der Politikergattin Martina de Maizière, um mittels großangelegter und ebenso gescheiterter Spendenoffensive per Schwarmfinanzierung (Crowdfunding) die Bohème der nächs-ten Zukunft zu präsentieren. Zu den Musikfestspielen fand im Grunde genommen nur das Abschlussprojekt von „Bohème 2020“ statt, denn Auswahlverfahren und Ideenfindung sind in diesem Zusammenhang vielleicht die kreativsten und nachhaltigsten Prozesse gewesen.
Die Gläserne Manufaktur von Volkswagen, Produktionsstätte von Phaeton und Bentley, war – als langjähriger Partner der Festspiele – Austragungsort dieser einmaligen Performance. Dazu kamen acht junge Künstlerinnen und Künstler aus vier Ländern und sieben Sparten zusammen, konnten sich ein paar Tage lang ausprobieren und schufen so ihre genreübergreifende Präsentation. Eine tolle Chance für die Mitwirkenden, gar keine Frage. Wie schön wäre es für die Kreativen überall auf der Welt, hätten sie vergleichbare Freiräume für ihre Kunst. Doch die „Bohème 2020“ kann natürlich nur eine Ausnahme von allen Regeln gewesen sein, eine Laborsituation, die sämtliche Erwartungen hochkochen ließ – um sie dann leider sehr gründlich zu enttäuschen.
Am ehesten überzeugten die jungen Leute noch im Zusammenspiel mit dem New Yorker Ensemble „The Knights“ wenige Tage zuvor. Da wurde zu Igor Strawinskys „Geschichte vom Soldaten“ der Bogen wieder um ein Jahrhundert zurückgeschlagen, konnten sich Schauspiel, Tanz und Text mit dem 1917 entstandenen Musiktheater assoziieren. Als die acht Bohèmiens jedoch auf sich gestellt waren – und das kann ihnen nicht mal zum Vorwurf gemacht werden! –, da erwiesen sie sich wieder als künstlerischer Nachwuchs unserer heutigen Zeit. Eine Ahnung von künftiger Avantgarde war da (noch?) nicht zu spüren, denn was hier an Poetry Slam, Gesang, Geigenspiel, Tanz, Video und Lichtinstallation zu erleben war, wirkte allzu beliebig. Wenn Dresdens „Bohème 2020“ tatsächlich schon für die Kreativität des nächsten Jahrzehnts sprechen sollte, dann stehen keine „Goldenen Zwanziger“ bevor. Wieder nicht.