Nordische Überlieferung in der Südseite nachts: In Wieland Hobans „Urðabrunnr“ im Probensaal P1 von Musik der Jahrhunderte im Stuttgarter Theaterhaus war keine Richtung vorgegeben. Vier Harfenistinnen sitzen im Kreis und ziehen Bogenhaare durch die Saiten. Zwischen ihnen drei Streicher und drei Bläser des Ensemble Recherche, dahinter Klavier und Schlagzeug, außen auf allen Seiten das Publikum.
Am Brunnen vor dem Weltenbaum Yggdrasil spinnen die Nornen, ihre Fäden ein Bild der Zeit. In der Vergangenheit sind bereits die Keime der Zukunft enthalten, ein zirkulärer Prozess, so wie der Komponist, wenn er sich ans Werk macht, ältere Anregungen aufnimmt, um etwas zu Papier zu bringen, was einmal erklingen wird. Ein schönes Bild, aber ist das auch zu hören? Nach den gestrichenen Harfentönen, punktuell ausgeleuchtet von den anderen Instrumenten, stellt sich das Ensemble vor. Weiter geht es in außerordentlicher Dichte zur Sache. Es passiert so viel auf einmal, dass es schwerfällt, überhaupt alles aufzunehmen. Harfen auf Achteltöne gestimmt, die Kontrabassklarinette gurgelt, ein Gong ins Wasser getaucht, Glissando in den Klaviersaiten: Der Komponist hat eine ganze Menge reingepackt in sein Werk. Für die Musiker ebenfalls keine leichte Aufgabe, zu zwölft im Kreis, ohne Dirigenten, haben sie die Augen auf die Noten geheftet, um nur nicht den Einsatz zu verpassen. Spielen sie zu sehr vom Blatt oder liegt es an der Komposition: Die Nornen scheinen einen hochleistungsfähigen Webstuhl in Gang zu setzen, die Zeit eilt dahin wie im wildesten Straßenverkehr von Bangkok. Und ist auf einmal abgelaufen.
In den folgenden Stücken für verschiedene Ensemble-Besetzungen ist die Anordnung wieder eher frontal. Und doch scheint in allen fünf Werken eine zyklische Zeit zu wirken: eine Bewegung im Kreis, unaufhörliche Oszillation im Stillstand, allmähliche Veränderung eines scheinbar feststehenden Zustands. Dies teilt sich zumeist schon in den bildhaften Titeln mit, während Stephanie Haenslers „dann und wann“ im Titel direkt die zeitliche Dimension anspricht, im Kommentar dann aber ebenfalls bildhaft vom Labyrinth der Erinnerung und einem klingenden Karussell spricht. Oboist und Klarinettistin hauchen in ihre Instrumente, die beiden Streicher streichen über den Korpus des Instruments, das Klavier setzt mit einzelnen Tönen Akzente. Grün-transparente Folie knistert, zwei Fischietti lassen Vogelgesang erklingen, wie in einem magischen Wald, erfüllt vom Sirenengesang dicht nebeneinander gestimmter Weingläser.
In Petter Ekmans „Flimmer“ für Streichtrio flimmert es weniger, als man vielleicht erwarten könnte. Gleichmäßig gezupfte Tönen, zumeist auf einer Tonhöhe, geben einen Rhythmus vor, zu einer Melodik, die passagenweise an Bartók erinnert. Sehr sicher, mit farbigem, variablem Klang, gibt die Violinistin Melise Mellinger den Ton an. Es läuft nicht durchgehend gleichmäßig wie ein Uhrwerk, vielmehr unterbrochen von Verzögerungen, Steigerungen, Ruhepunkten. Aber wie ein Uhrwerk abläuft, so kommt das Stück auf einmal zum Stillstand. Dafür flimmert und flackert es in „Elusive tangibility II: firelife“ von Steven Daverson: das Bild einer ruhelos flackernden Flamme, immer in Bewegung, aber im Prinzip unverändert. Die Bögen fahren über die Saiten, aus dem Rascheln und zischeln leuchtet der rundere Klang der Klarinette hervor.
Das Programm folgt einer inneren Logik, denn nach dem Tutti ist die Besetzung zusehends kleiner geworden. Auf das Flackern der Flamme folgt die Abkühlung. Die Bewegung kommt zur Ruhe. In Lisa Streichs „Asche“ huscht Åsa Åkerbergs Violoncello-Bogen fast ohne Gewicht über die Saiten und gibt dabei kaum einen Hauch von sich, während Shizuyo Oka, die einige Meter entfernt am rechten Bühnenrand steht, fast tonlos die Klarinette anstößt. In die konzentrierte Stille drängen schrille, hohe Klarinettentöne. Während die Cellistin Doppelgriffe anstimmt, bläst die Klarinettistin zuerst einen, dann dazu noch einen zweiten Ton. Auf einmal erklingen ganze, harmonische Akkorde, unterbrochen von gepressten Spaltklängen. Dieses Spiel lädt geradezu ein, sich immer weiter hinein zu hören. Bis das Stück am Ende nach einer finalen Steigerung ebenso unversehens abbricht wie alle anderen zuvor. Langweilig wird es jedenfalls nie, alle Komponistinnen und Komponisten des Abends scheinen zu wissen, wohin sie wollen. Und brechen lakonisch ab, wenn sie meinen es reicht, statt sich in weiteren Verästelungen zu verlieren.
„Rdja“ (von Milica Djordjevic), der Titel des letzten Stücks, bedeutet Rost. Nachdem bei Åkerberg alles zur Ruhe gekommen ist, scheint nun von Beginn an die Bewegung angehalten, ja festzustecken. Die drei Streicher und die drei Bläser setzen zusammen ein. Breite Klangflächen stehen im Raum, lediglich der Schlagzeuger klingelt im Hintergrund herum. Doch mit der Zeit fallen Streicher und Bläser auseinander, setzen nun abwechselnd ein. Anfangs annähernd homogene Klangflächen werden in sich immer bewegter, mit dem statischen Bild des Rosts nur insofern vereinbar, als der Klang rauer wird, während der Schlagzeuger im Hintergrund das lebhafte Geschehen nun mit Donnerblech, Gong und – jawohl – einer rostigen Scheibe unterlegt. Plötzlich ist wieder alles sehr lebendig geworden.