In der Oper Erfurt gibt’s Shakespeare statt. Nicht das schlechteste an Libretto-Inspiration, was die Operngeschichte zu bieten hat. Verdis „Macbeth“. Dann die Ausgrabung von Riccardo Zandonais „Juliette et Romeo“ und jetzt noch den französischen Opern-Klassiker dieser Lovestory an sich von Charles Gounod (1818-1893). Der Franzose hat im Moment Konjunktur.
In Stuttgart hat Frank Castorf bei einem seiner seltenen (aber noch jedes Mal genialischen) Ausflüge in die Oper mit dessen „Faust“ einen Coup gelandet. Die Oper Leipzig wird nächste Woche mit dem in Vergessenheit geratenen, späten „Cinq Mars“ (unter dem Titel „Der Rebell des Königs“) nach Ausgrabungslorbeeren greifen. Und sozusagen mitten drin glänzt jetzt Erfurt mit Gounods „Roméo et Juliette“.
Dass Intendant Guy Montavon bei seiner Auswahl von Stücken und Regisseuren bewusst über den Tellerrand des üblichen Rauf- und Runter-Einerleis immer mal auch in den französischen, italienischen Kulturkreis blickt, hat sich in den letzten Jahren meistens als Bereicherung erwiesen.
Wenn das Publikum am Ende jubelt und zwischendurch immer wieder applaudiert, liegt das nicht nur daran, dass Samuel Bächli das Erfurter Orchester dazu bringt, gleichsam französisch zu reden, also zu schwelgen, auszuschmücken, Leidenschaft zuzulassen, aber auch den Hass und die Verzweiflung, die dieser Musik innewohnt und mit Geschmeidigkeit und Sängerfreundlichkeit zu beeindrucken. Es liegt natürlich auch daran, dass sich das hauseigene Erfurter Ensemble in diesem Schmuckstück der französischen Oper, die 1867 (ein Jahr nach Offenbachs „Pariser Leben“ und im gleichen Jahr wie Verdis „Don Carlos“) mit großen Erfolg uraufgeführt wurde, aufs beste bewährt.
Daniela Gerstenmeyer und Won Whi Choi sind nicht nur ein stimmlich, sondern auch darstellerisch passendes tragisches Liebespaar. Wunderbar wie sie sich in ihre Verliebtheit fallen lassen. Imponierend wie sicher und markant der koreanische Tenor seine Partie mit Leben und vokaler Leidenschaft ausfüllt. Man wundert sich nicht, warum er einer von den beiden „Erfurtern“ ist, die sich die New Yorker MET für die nächste Spielzeit mitten aus Thüringen wegengagiert hat. Aber nicht nur die Titelhelden überzeugen: Katja Bildt als Juliettes Amme (im Spiel einen Zacken zu überdreht als komische Alte) und Richard Carlucci als Scharfmacher Tybalt auf der Seite der Capulets. Bei den Montaigus brilliert Julia Stein in der kleinen Partie von Romeos Pagen Stéphano, während Siyabuelela Ntlale und Jörg Rathmann als Romeos rauflustige Freunde Mercutio und Benvolio mit ihrer Bühnenpräsenz punkten. Gregor Loebel ist der trinkfeste Pater Laurent, den Romeo als Verbündeten seiner Liebe erstmal auf Trab bringen muss.
Dem 1982 in Florenz geborenen Regisseur Frederico Grazzini, der bislang vor allem in Italien und Frankreich inszeniert hat, gelingt in Erfurt der publikumsfreundliche Balanceakt zwischen Modernisierung der Story und punktuell imaginierter Sinnlichkeit der Bilder. Alles spielt im Heute. Die berühmte Frage, ob‘s denn die Nachtigall oder die Lerche sei, die da in die Liebesnacht trällert, wird unter einer einsamen Laterne auf einem ebensolchen Parkplatz auf der Kühlerhaube eines BMW mit Veroneser Kennzeichen entschieden. Wie immer, vernünftigerweise, zugunsten der Lerche. Sonst hat die Vernunft in dem Stück ja eher keine Chancen. Der Erfurter Hausausstatter Hank Irwin Kittel lässt dann tatsächlich auch Julias Vater (Juri Batukov) mit dem Auto davonfahren, nachdem der die längst heimlich mit Romeo getrauten Tochter beinahe inflagranti erwischt und verkündet hat, dass sie ihren offiziellen Verlobten Pâris (Máté Sólyom-Nagy) zu heiraten habe. Schon weil der das ihrem von Roméo (ohne Vorsatz) ermordeten Vetter Tybalt versprochen habe.
Wie das Libretto der Shakespeare-Vorlage folgt, kann man im (hier in Erfurt immer knappen, aber wirklich sinnvollen) Programmheft im Einzelnen nachvollziehen. Die Regie setzt ihrerseits die Szene mit den beiden toten Liebenden zur Ouvertüre an den Anfang und wiederholt sie am Ende noch einmal in aller Ausführlichkeit. Da steigt Romeo in jener Pathologie ein, in der er unter den Toten auch die scheintote Julia findet.
Nun könnte man sagen, in der Zeit, in der das spielt, hätten die beiden ihr Handy immer am Mann und an der Frau gehabt. Hatten sie aber nicht. Vielleicht war der Akku leer – kommt ja auch oft vor. Für die Szenenfolge, genügt der Wechsel zwischen Glitzervorhang und aus der Versenkung auftauchendem Zimmer, Mauer mit Eisentor und einsamen Parkplatz. Die etablierte Gesellschaft in Abendgarderobe wird als Masse zu einer Front der herrschenden Vorurteile, gegen die Juliette und Roméo mit ihrer Liebe rebellieren. Es bleibt haften, wie die sich am Ende einfach abwendet, die beiden als Kollateralschäden verbucht und zur Tagesordnung übergeht. Jessica Krüger hat für diese Gesellschaft eine Unisono-Choreographie erfunden, die der von Andreas Ketelhut fabelhaft einstudierte Chor mit Charme und ironischem Witz präsentiert. Was genauso gelungen ist wie die durchchoreographierten Schlägereien zwischen den Jungendgangs der Capulets und den Montaigus.