Der neue Leipziger „Lohengrin“ blickt in zwei Richtungen. Einmal zurück und einmal nach vorn. Zurück, weil seine szenische Umsetzung eigentlich anders geplant war. Was auch, aber nicht nur, mit den leidigen Coronaquerschlägern, die jeder Planung die letzte Sicherheit nehmen, zu tun hat. Eigentlich sollte nämlich Katharina Wagner inszenieren. Die Premiere für deren zweiten „Lohengrin“ (nach ihrem ersten, hochpolitischen in Budapest) sollte eine Übernahme der zuerst für Barcelona gedachten Neuinszenierung in Wagners Geburtsstadt werden. Kurz vor der dortigen Premiere beendete der erste große Lockdown alle Blütenträume.
Eine Inszenierung von des Komponisten Urenkelin und Festspielchefin eigener Hand wäre natürlich – und hier kommt der Blick voraus ins Spiel – der Clou gewesen, der dem bevorstehenden Leipziger Großprojekt „Wagner 22“ noch ein weithin leuchtendes PR-Ausrufezeichen hinzugefügt hätte. Ulf Schirmers höchstambitionierte Wagnereinmaligkeit, seine Intendanz mit einem Festival mit allen 13 Wagneropern am Stück an seinem Haus zu krönen, wird sich dennoch weltweit gut verkaufen lassen und Leipzig zum Mittelpunkt der Wagnerwelt machen.
Dass Katharinas Inszenierung nicht dabei sein und nun doch erst mit ein paar Jahren Verspätung in Barcelona herauskommen wird, ist schade. Es lag – sowohl in der Begründungsversion der Leipziger Oper, als auch in der etwas pointierter Bedauern ausdrückenden aus Bayreuth – an technischen Anpassungsproblemen, die man in Leipzig offenbar unterschätzt hat. Schirmer hat dafür ausdrücklich die Verantwortung übernommen. Aber: Tempi passati – Leipzig und Katharina werden das verschmerzen.
Da es aber ohne den Schwanenritter natürlich nicht geht, musste auf die Schnelle ein Ersatz her, der zumindest nicht an technischen Voraussetzungen scheitern würde. So wurde ein hauseigenes Team aus Patrick Bialdyga (Regie), Norman Heinrich (Bühne) und Roy Böser & Jennifer Knothe (Kostüme) benannt, das jetzt für eine Ersatzvariante sorgte. Und zwar in Tesla-Geschwindigkeit. Für den anreisenden Beobachter ein Fall aus der Rubrik, ich erwartete nicht viel und war gefasst noch weniger zu finden ….
Abgesehen davon, dass das Resultat so herab gedimmte Erwartungen nur übertreffen kann, muss man den Leipzigern zugestehen, dass dieser „Lohengrin" zwar kein alles umstürzender Geniestreich aber tatsächlich auch szenisch deutlich mehr geworden ist, als eine pseudokonzertante Ersatzlösung.
Zu erleben ist ein spannendes Kammerspiel des Kampfes um die Macht, ohne vordergründig plakativ zu sein. Sicher ist der Umgang mit den Chören pragmatisch. Sie sind in die Unsichtbarkeit verbannt. In ein Konstrukt, das wie eine Mauer mit Arkandenöffnungen wirkt. Wenn die aber von hinten beleuchtet wird, sieht man den in zwei Ebenen in Reih und Glied aufgestellten Chor. Da die Chöre im „Lohengrin“ aber eh vor allem immer das bestätigen, was die Protagonisten gerade verkünden, kann man diese Lösung, in der sie wie deren unsichtbares Echo wirken, akzeptieren. Zumal Patrick Bialdyga auf seine schon entwickelte, chorlose Lohengrin-Rumpffassung zurückgreifen konnte bzw. musste.
Es ist mehr ein Zufall der Geschichte, dass man heutzutage, bei der langen Tafel, die Norman Heinrich zu Beginn ins Zentrum der Bühne gesetzt hat, an die absonderlichen neuen Tisch(un)sitten im Kreml denken muss. Überhaupt hat die reale Geschichte, der von Wagner erdachten, eine neue Beleuchtung hinzugefügt, die einen erschaudern lässt. Was früher für jeden Regisseur eine Deutungsherausforderung war oder als Peinlichkeit übergangen wurde, wenn nämlich König Heinrich über den Feind, der das Reich aus dem Osten bedroht spricht und Hilfstruppen von Brabant fordert, um den Ansturm östlicher Aggressoren abzuwehren, wünscht man sich plötzlich die Zeit zurück, in der man das innerlich als eine militaristische Unmöglichkeit Richard Wagners empört abtun konnte.
Zum Vorspiel sieht man zunächst wie Elsa im Brautkleid langsam zusammenbricht und sich unter dem Tisch verkriecht. Sie ist längst nicht mehr von dieser Welt. Links sitzt Friedrich Telramund. Machtbewusst aber (auch im wahrsten Wortsinn) blind. Vor allem für die weiterreichenden Ambitionen, die seine Frau verfolgt. Kathrin Göring ist vielleicht nicht die voluminöseste Ortrud, aber von einer unglaublichen darstellerischen Präsenz. Realpolitikerin pur. Außerdem feuert sie Ortruds Boshaftigkeiten schlank, aber hochkultiviert in den Raum. Dass sie vermutlich schon Friedrich Telramund vor allem aus politischem Kalkül geheiratet hat und ihn jetzt, da er ihr nur noch blind folgen kann, verachtet, merkt man spätestens, wenn sie sich ein Glas genehmigt, als Telramund im dritten Akt schließlich doch von Lohengrin in Notwehr ausgeschaltet worden ist. Beim ersten Duell der beiden sieht man hier tatsächlich mal, was Lohengrin später immer behauptet, dass nämlich alle seine gute Tat gesehen haben und er deswegen nichts weiter beweisen oder erklären muss. Hier ist es so, dass er – fair wie der in einem (unvorteilhaften) Strickpullover auftauchende, alternative nette Ritter von nebenan nun mal ist – dem wütend mit dem Schwert rumfuchtelnden Telramund den Kampf verweigert und nur wegschubst. Um ihm dann sogar seinen Blindenstock wiederzugeben. Selbst Ortrud, deren strategische Feindseligkeit ihm nicht entgangen sein dürfte, versucht er zu trösten. Das sind Nuancen, deren Entdeckung Spaß machen. Und man ist bis zum Ende auf den Ausgang gespannt, verschätzt sich aber doch, wenn man auf eine Machtübernahme durch den Heerrufer und Ortrud gewettet hätte. Der Heerrufer spielt hier von Anfang an, als exemplarischer Opportunist, in beiden Teams. Des Königs Sprecher und Berater, aber auch der konspirative Verbündete von Ortrud, die er am Ende des zweiten Aufzuges, als die sich die Pistole schon an die Schläfe gesetzt hat, vom Selbstmord abhält. Am Ende allerdings, wenn die Chance zu Machtübernahme real wäre, schwenkt er in letzter Sekunde um, und erschießt Ortrud sozusagen als Morgengabe für den jungen Mann, der sich beherzt die Krone schnappt und aufsetzt. Das kann noch heiter werden in Brabant!
Was man auf den fiktiven Fortgang der Geschichte nur ironisch meinen kann, war es rein musikalisch in Leipzig tatsächlich: Wagner auf einem Niveau, das Freude machte! Das fängt bei den Protagonisten an: In Bayreuth war er im letzten Sommer noch kurz vor der Premiere als Walküre-Wotan abgesprungen, in Leipzig sprang er ein: Günter Groissböck lieferte einen Heinrich von wahrhaft königlichem Format. Dass er dessen markige Sätze in Sachen Landesverteidigung mit Vehemenz und wild entschlossen in den Raum stellte, hätte noch vor vier Wochen seltsam angemutet.
Klaus Florian Vogt, der sich als Lohengrin im Laufe des Abends bis zur Monsalvat-Erzählung sogar noch steigerte und immer geschmeidiger und kraftvoll strahlte, ist immer noch einer der weltbesten amtierenden Lohengrin-Sänger. Was man seiner Stimme sonst gelegentlich als Nachteil anrechnet, in dieser Rolle seines Lebens fügt es sich! Mit runden Tönen und Wärme ist Gabriela Scherer eine Elsa, die den Realpolitikern nur szenisch nicht gewachsen ist, stimmlich schon.
An der Seite von Kathrin Göring ist Simon Neal ein standfest finsterer Telramund. Mathias Hausmann überzeugt als eloquenter Heerrufer. Das fügt sich zu einem Ensemble, das von den Mannen des Telramund und einem bestens von Thomas Eitler-de Lint einstudierten, machtvollen Chor komplettiert wird.
Christoph Gedschold leistet sich am Pult des Gewandhausorchesters beim Vorspiel ein paar überraschende Freiheiten – man hört mehr den überirdischen Lohengrinton umschwirrende instrumentale Einzelstimmen, als man gewöhnlich zu erwarten hat. Aber von da ab gehts bergauf. Ein voller packender, den Raum füllender Klang, der auch mal auftrumpfte, aber nie die Stimmen untergehen ließ.