Schon vor seinem Amtsantritt überhaupt schlugen dem neuen Salzburger Festspielintendanten Alexander Pereira Kritik und Häme entgegen, in Deutschland vor allem, wo man von der Kunst gern straffe Konzepte und gesellschaftliche Relevanz erwartet. Ideologischer Überbau ist allerdings das Letzte, was Zürichs langjährigen Erfolgsintendanten interessiert. Er hat’s gern bunt. „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen“, heißt es im „Faust“-Vorspiel. Wer das gesamte Angebot der ersten Pereira-Saison überblickt, muss aber zugeben, dass etliche Schwerpunkte des Programms keinesfalls nur der „Kulinarik“ dienen, sondern ebenso anspruchsvoll sind wie bei den inzwischen der Verklärung überstellten Pereira-Vorgängern. Darüber wird noch nach Ende der Festspiele in der nächsten Ausgabe zu berichten sein. Zum Abschluss der Opern-Serie konnte Pereira mit Bernd Alois Zimmermanns „Die Soldaten“ einen stürmisch gefeierten Erfolg verbuchen, der jedoch wiederum die Kritiker auf den Plan rief: denn der Regisseur hatte vor allem den Schluss von Zimmermanns Oper stark verändert. Darüber berichtet unser Mitarbeiter Peter P. Pachl in seiner folgenden Kritik.
Die 1958 entstandene und nach langen Anlaufschwierigkeiten 1965 in Köln (beinahe strichlos) uraufgeführte Oper „Die Soldaten“ erlebte ihre Salzburger Erstaufführung in einer eigenwilligen Fassung. Trotz der augenfälligen Präsenz aller Orchesterformationen und in künstlerisch hoher Qualität blieb dabei Zimmermanns multimediales Kunstwerk auf der Strecke. Dafür wurde die Felsenreitschule, erstmals in der Neuzeit, zwar nicht für Wildtierhatzen, aber doch nicht nur für menschliche An- und Übergriffe, sondern auch für Pferde genutzt.
Hatte der Sturm und Drang-Autor Jakob Michael Lenz (1751–1792) in seinem gleichnamigen Schauspiel für eine Pflanzschule von Soldatenweibern plädiert, um dem Missstand der vom Militär verführten und vergewaltigten Bürgermädchen entgegenzuwirken (weshalb Goethe ihn fallen ließ), so ist die Einrichtung des Komponisten Bernd Alois Zimmermann (1918–1970) primär ein Veto gegen Kriege. Entgegen der kugelgestaltigen Zeitangabe des Komponisten, „gestern, heute und morgen“, der Aufhebung der Einheit von Ort, Zeit und Handlung, hatte sich das Salzburger Leading Team für den ersten Weltkrieg als gespielte Zeit entschieden (Kostüme: Eva Dessecker).
Historische Anmachbilder
Der lettische Regisseur und Bühnenbildner Alvis Hermanis hatte die hintere Hälfte der Bühne als Pferdehalle gestaltet. Hier werden sieben Rosse durch die ganze Bahn und in zwei Zirkeln herumgeführt und, erotisch aufreizend, von Halbweltdamen im Herrensitz geritten. Zugleich dient der hintere Raum, über dem die historische Eingangs-Skulptur der Felsenreitschule mit ihren drei Pferdeköpfen prangt, als Kaserne für traumatisierte Soldaten. Von der vorderen Bühne getrennt wird dieser Trakt durch eine Fensterfront, zugleich Projektionsfläche für historische Pornophotogravüren. In 3D kann diese Anmachbilder nur der Feldprediger Eisenhardt (Boaz Daniel) mit seinem historischen Okular betrachten.
Der vordere Bühnenteil wird als Simultanschauplatz bespielt, Marie und ihre Schwester Charlotte teilen sich ein Stockbett, welches aber auch Stolzius und seiner Mutter (Renée Morloc) als Zuhause dient. Sowohl Stolzius, als auch Weseners alte Mutter (Cornelia Kallisch) ziehen sich in einen beleuchteten Schrank als Refugium zurück. Eine aufgerichtete Glasvitrine bietet öffentliche Sicht auf die darin agierenden Liebespaare oder die strippende Andalusierin; deren Double reitet zu Zimmermanns Jazz-Combo-Klängen lustvoll auf der steinernen Pferde-Trias.
Im Gegensatz zur epochalen Inszenierung durch David Pountey bei den Ruhrfestspielen des Jahres 2006 in der Jahrhunderthalle Bochum, wurden die Bühnenorchester bei Theateraufführungen der „Soldaten“ aus Platzgründen zumeist in Nebenräumlichkeiten verlagert und elektroakustisch zugespielt. In Salzburg schlossen sich die erweiterten Orchesterformationen, das umfangreiche Schlagwerk und die Jazz-Instrumente, aber auch Gitarre und Harfen, rechts und links an die im Orchestergraben aufspielenden Wiener Philharmoniker auf erhöhtem Bühnenniveau an. Die kugelgestaltig dröhnende Klangcollage zu Beginn des vierten Aktes, der Höhepunkt dieser Partitur an Klangmischung von live erzeugter Pluralität und vorproduzierten Zuspielungen, erfolgte in der Salzburger Felsenreitschule ausschließlich live. Dies bedingte die Eliminierung aller simultanen Aktionen der Handlungsträger, zumal die Solisten ihre Einsätze nur mehr konzertant produzierten. Und die nun keineswegs mehr ohrenbetäubende Klangwirkung verzichtete auch auf die mitkomponierte, plurale und mulimediale Bildwelt. Der Klang aber kam von der überbreiten Guckkastenbühne, ohne die von Zimmermann erstrebte „optisch-akustische Landschaft um den Zuhörer“.
Ingo Metzmachers eigengewichtig eigenwillige Lesart der Partitur bewirkte deren Domestizierung. Dies wurde insbesondere am Ende eklatant, da der Dirigent jene reduzierte Alternative wählte, die Zimmermann für eine Konzertaufführung ohne Einspielbänder nachgeliefert hatte. So erfolgten in Salzburg keine Marschtritte der Soldaten, keine internationalen Befehle – und kein Schatten des Atompilzes: das lateinische Paternoster des Feldpredigers verebbte, die zweimal sechs Schlagzeugtakte des Bühnenorchesters und der großen Trommel im Hauptorchester zu den liegenden Flageoletts von Violoncelli und Kontrabässen versiegten, ausgedünnt bis zum ‚Dis‘ des 1. Kontrabasses.
Ästhetisierende Wirkung
Die Koproduktion mit der Mailänder Scala endete in Salzburg somit ohne Katastrophe, ohne Trost – wenn auch nicht ganz trostlos. Denn gesungen und musiziert wurde in dieser Produktion durchaus auf sehr hohem Niveau. Metzmachers Interpretation ging merklich konform mit der insgesamt ästhetisierenden Wirkung der naturalistischen Collage des Regisseurbühnenbildners, den knapp 30 namhaften Sängerdarstellern der Militaristen, mitsamt Adel, Bürgerlichen, Prostituierten, Pferdeknechten, Rossen und Reitern als erotischem Akt.
Das vorgeschriebene Gewitter am Ende des ersten Aktes flammte in den Arkaden auf, und die folgende Introduktion deutete der Dirigent als kollektive Entladung: die Soldaten, die zuvor schon als Voyeure hinter den Fensterscheiben fungiert hatten, als Desportes Marie das Mieder geschnürt hatte, onanieren nun angesichts der Marie gemeinschaftlich, bis hin zum kollektiven Orgasmus.
Scheinschwangerschaft
Statt der Fahrt im Wagen mit Herrn von Mary und Stolzius als Diener, reitet Marie selbst hoch zu Ross. In lichter Höhe überschreitet ein Double der Marie die volle Bühnenbreite auf einem Seil, die Sängerdarstellerin balanciert dann auf Strohballen aus Holzwolle, in denen sie sich mit ihren Liebhabern suhlt, bis Beide jeweils selbst zu Strohpuppen werden. In Hermanis’ Inszenierung wird Marie geschwängert, doch erweist sich ihr prägnanter Bauch als Scheinschwangerschaft, denn im langen Terzett mit der Gräfin (stimmlich sehr profiliert: Gabriela Benacková) und Charlotte (Tanja Ariane Baumgarter), zieht sich Marie (souverän und wohltönend: Laura Aikin) langsam die Holzwollfäden wieder aus ihrem hochschwangeren Bauch.
Stolzius (kernig männlich: Tomasz Konieczny) hat mit Halftern behängt seinen Dienst bei Hauptmann Mary (Morgan Moody) angetreten und rasiert seinen neuen Herrn, wie weiland Wozzeck den Hauptmann. Synchron zum Tischgespräch von Desportes (Daniel Brenna) und Mary vergewaltigt Marys Jäger Marie in der Glasvitrine. Potenziert wird der Akt des Vergiftens jener Militaristen, die Marie zur Hure gemacht haben: Stolzius tötet nicht nur Desportes und Mary, auch alle Soldaten fallen leblos zu Boden. Der alte Wesener (Alfred Muff) sucht unter Gasmasken nach Überlebenden und trifft im Heu auf seine Tochter, die er nicht mehr erkennen will. Dabei werden die Projektionen gespreizter Frauenschenkel abgelöst durch historische Fotos von Geschwüren deformierter Gesichter. Marie aber besteigt selbst die steinerne Troika und richtet einen bei Zimmermann für sie nicht komponierten Schrei gen Himmel.
Der vom Komponisten für die Konzerfassung gewählte Weg „ins völlige Nichts, in dynamische Finsternis“, wurde lichttechnisch nachvollzogen: während der letzten Takte wurden alle Lichter eingezogen, zuletzt verlöschte auch der Spot auf den Dirigenten, und nur die roten Hurenampeln um das Glasgeviert glimmten in der Stille weiter. Trotz einer Pause nach dem zweiten Akt, bei nur knapp zweistündiger Musikdauer, blieb das Premierenpublikum bis zum Schluss. In der nicht komplett ausverkauften Felsenreitschule bejubelte es die späte Salzburger Erstaufführung jener Oper, die wie keine danach die Grenzen des im Musiktheater Machbaren erweitert hat.