Durchaus hintergründig ist das Logo des 19. Kurt-Weill-Festes zu verstehen: Eine Nickelbrille, wie der Komponist sie trug, wirft den Schatten des Brandenburger Tores. „Berlin im Licht“ lautet das diesjährige Motto, „Berlin im Licht“ hieß ein Song, den Weill im September 1928 für die gleichnamige Werbeveranstaltung der Berliner Gas- und Elektrizitätswerke schrieb, und „Berlin im Licht“ hieß Ende der 1980er-Jahre ein Programm des Ensemble Modern unter dem Wiener Dirigenten, Komponisten und Chansonier H.K. Gruber.
Seit Jahren gastiert das Ensemble Modern immer wieder beim Weill-Fest. In diesem Jahr war es sogar als vielköpfiger und vielstimmiger „Artist-in-Residence“ zu erleben und nutzte die Gelegenheit, sich an vier Terminen in ganz verschiedenen Facetten zu präsentieren. Auch das alte „Berlin-im-Licht--Programm“ unter Gruber war wieder zu hören, allerdings mit etwas weniger Weill, dafür einigen politischen Liedern von Hanns Eisler. Man habe sich bemüht, Weill „als Prisma“ zu benutzen, erklärte Roland Diry, Klarinettist und Hauptgeschäftsführer des Frankfurter Ensembles, beim einleitenden Festivalcafé. Im Rahmen dieses lebendigen Künstlergesprächs spielte der junge Geiger Filip Michal Saffray Musik für Violine solo von George Antheil, Paul Hindemith und dem deutsch-französischen Geiger Henri Marteau, der 1908 Nachfolger Joseph Joachims an der Berliner Musikhochschule geworden war.
Ein Konzert in der Marienkirche mit der Sängerin und Stimmartistin Salome Kammer kombinierte unter der Überschrift „Nachtgesänge“ Schönbergs „Pierrot Lunaire“, Eislers „Palmström“, Hindemiths „Die junge Magd“ und die Suite aus Strawinskys „Geschichte vom Soldaten“. Im Bauhaus schließlich gab es Bläsermusik in Trio- und Quintettbesetzung der Weill-Zeitgenossen Zemlinsky, Eisler, Schulhoff, Pavel Haas und Cage unter dem Motto „Round About Weill“. Weill als „Türöffner“ in die verschiedensten Richtungen, wie Festival-Intendant Michael Kaufmann es nennt, ist sicher eine ausgesprochene Chance und Stärke des Dessauer Festivals. Man stelle sich einen ähnlich erhellenden Pluralismus bei den Bayreuther Festspielen vor: Wagner plus Brahms im Sinfoniekonzert, „Lohengrin“ neben „Genoveva“, „Pariser Leben“ und der zweite Akt von „Parsifal“, Teile aus dem „Ring“ in Verbindung mit Stockhausens „Licht!“. Andererseits zeigt der Vergleich mit Bayreuth auch die Dessauer Schwäche. Undenkbar wäre es, den Musikdramatiker Wagner auf seine Instrumentalwerke und populäre Ausschnitte aus den Opern zu reduzieren. Beim Bühnenkomponisten Weill aber kämpfen die Intendanten des Weill-Festes seit Jahren darum, nicht immer wieder die etablierte „Dreigroschenoper“, das „Mahagonny“-Songspiel, die gleichnamige Oper oder die „Sieben Todsünden“ zu wiederholen. Doch vor einer Aufführung der übrigen Opern, Operetten und Musicals stand lange Jahre die Zurückhaltung des Anhaltischen Theaters und der New Yorker Kurt Weill Foundation.
So darf man schon als großen Schritt werten, dass diesmal am Anhaltischen Theater nicht nur die Vorjahresproduktion von Weills Broadway-Erfolg „One Toch of Venus“ zu sehen war, sondern auch die gewichtige Neuinszenierung einer weiteren Rarität: Intendant André Bücker und GMD Antony Hermus kombinierten Ruggiero Leoncavallos beliebten Einakter „Pagliacci“ (auch „Der Bajazzo“) mit Weills frühem expressionistischem Einakter „Der Protagonist“ von 1924/25 – eine bislang noch nirgends gewagte Zusammenstellung, die nicht nur Repertoirefähigkeit nach dem Festival verheißt, sondern auch den inneren Bezug der beiden Stücke freilegt. In beiden Fällen geht es um die Tötung einer Frau im Affekt durch einen Schauspieler in Aktion.
Während allerdings Canio im „Bajazzo“ seine Frau im Rahmen einer Aufführung umbringt, nachdem Tonio ihm ihre Untreue hinterbracht hat, tötet der Protagonist in Georg Kaisers Libretto zu Weills Oper seine eigene Schwes-ter bei einer Probe, während der er sich in krankhafte Eifersucht gesteigert hat. Und während bei Leoncavallo der Vorhang unmittelbar nach der Tragödie schließt, liefert Kaisers Held noch den zynischen Kommentar eines egomanen Künstlers zu seiner eigenen Tat ab. Kaiser dürfte mit diesem Szenario seinen eigenen Schrecken über den Realitätsverlust eines übersteigerten Expressionismus verarbeitet haben. Weill wiederum kritisiert die dramaturgischen Tricks des italienischen Verismo, wenn er dem Protagonisten am Ende dessen musikalischen Tonfall unterschiebt. Das Regieteam (mit Ausstatter Oliver Proske und Choreografin Gabriella Gilardi) kam im „Protagonisten“ den Intentionen der Autoren sehr nahe und schaffte es zudem, die beiden Stücke auf intelligente Weise zu verklammern. Auch die von den Zeitgenossen bezeugte enorme Bühnenwirksamkeit des Weill’schen Opernerstlings war zu spüren.
Angus Wood kam mit der anstrengenden Titelrolle darstellerisch und sängerisch ausgezeichnet zurecht, und die Anhaltische Philharmonie spielte mit Präzision, Farbenreichtum und Ausdruckswillen, wie man sie auch von renommierteren Orchestern selten hört. Einen gewichtigen Seitenblick in puncto Musiktheater tat das Festival mit Edmund Nicks Radio-Stück „Leben in dieser Zeit“, das als Gastspiel der Staatsoperette Dresden unter dem Dirigat von Ernst Theis zu erleben war. Erich Kästner war 1929 mit einem Hörspielentwurf an die Schlesische Funkstunde Breslau herangetreten. Weill, mit anderen Arbeiten ausgelastet, hatte die Komposition abgelehnt und Nick, den damaligen musikalischen Leiter des Breslauer Senders, empfohlen. Formal eine Kantate für Chor, Solisten und Orchester, inhaltlich ein lebendiges Kaleidoskop aus der Sicht eines kritischen Moralisten, hatte das Hörspiel einen solchen Erfolg, dass der Komponist 1931 eine Konzert- und eine Bühnenfassung anfertigte. Interessanterweise klingen in der Partitur musikalische Stilebenen an, derer sich Weill erst später bediente. Man findet den Chanson-Tonfall, den Weill im Pariser Exil kultivierte, aber auch den amerikanischen Stil der ersten Musicals „Johnny Johnson“ und „Knickerbocker Holiday“. Sogar das lärmende Großstadt-Szenario von „Street Scene“ kündigt sich als Idee bei Nick schon an. Kästners Texte haben sich überdies erstaunlich frisch gehalten. Dass viele Menschen anstelle des Herzen ein Telefon tragen, erscheint im Zeitalter der mobilen Kommunikation sogar noch aktueller.
Dessau als „Wiege der klassischen Moderne“ – der Slogan, mit dem die Bauhausstadt seit einer Weile wirbt, bewahrheitet sich immer wieder. Wie es um die Zukunft der Dessauer Kulturlandschaft bestellt ist, bleibt vorerst offen. Hatten im Vorjahr die Blut-und-Tränen-Liste des Oberbürgermeisters und die darauf folgenden Demonstrationen für Nervosität gesorgt, so herrschte diesmal vor den Landtagswahlen die gespannte Ruhe des Abwartens. Der Schlüssel für die Zukunft des Anhaltischen Theaters und damit auch des Weill-Festes liegt bei der neuen Landesregierung.