„Euryanthe“ ist ein Meisterinnen- und Meisterwerk aus Wien. Nicht nur Carl Maria von Webers so effektintensive Partitur von 1822/23 hat in der Geschichte des Musiktheaters eine Leuchtspur hinterlassen und half, zusammen mit dem „Freischütz“, den Mythos einer „Geburt der deutschen Oper“ begründen. Auch das viel gescholtene Textbuch Helmina von Chézys hat bemerkenswerte Qualitäten. Es erscheint als Fundgrube für Denkformen, Sehnsüchte und Propagandamuster in der Restaurationsepoche nach 1815. Zu der bieten sich von der Gegenwart des derzeitigen Österreich her manche Bezugspunkte an.
Ein blütenweißer Salon mit goldenem Bett
Weit hat der Regisseur Christof Loy ausgeholt, um im Gespräch mit seinem Leibdramaturgen Klaus Bertisch zu erläutern, wie er diese „Große heroisch-romantische Oper“ für sich entdeckte und schätzen lernte. Er sieht sich durch den Komponisten bestätigt: „Zwar hat Weber an einigen Stellen mit dem Libretto gehadert, aber seine Einwände betrafen eher die Dramaturgie, niemals die sprachliche Qualität“. Tatsächlich weichen die Reime in ihrer einst branchenüblichen Banalität nicht wesentlich von der Theaternorm des frühen 19. Jahrhunderts ab. Eher sorgen Flüchtigkeitsfehler beim Handlungsmuster dafür, dass die historische Projektion auf die Zeit um 1400 nicht durchgängig plausibel wird. Die Verhandlungen im Königsschloss mit Blick auf eine Loire-Landschaft verzichten bei der Anklage auf belastbare Beweise, beim rasch vom Volkszorn gefällten Urteil auf juristische Logik, obwohl es schließlich um Leben oder Tod der Titelheldin geht. Aber gerade dadurch erweist sich Chézys Text als Echolot einer Zeit, in der im deutschsprachigen Raum nicht nur Einigkeit und Freiheit eingefordert wurde, sondern eben auch «Recht». Dass üble (wie am Ende übrigens auch staatstragend positive) Nachrede an die Stelle der Erörterung und Bewertung von Tatsachen tritt, macht „Euryanthe“ sogar a bisserl aktuell.
So geht in Ordnung, dass Johannes Leiacker schon zur Ouverture einen großen Salon ganz im Weiß und der großzügigen Leere des späten 20. Jahrhunderts zeigt – mit Ausblick womöglich aufs frühe neunzehnte durch ein rückwärtiges Sprossenfenster, gut und gern 4,80 m hoch. Ein nussbrauner Flügel dominiert neben einem Korbsessel und den trockenen Zweigen in der Bodenvase. Sonst nichts. Ah doch: vorne rechts – ein goldenes Bett! Ein solcher Rückzugsort für die schönen Körper der von schnöden Liebesqualen heimgesuchten aristokratischen Seelen ist das klarste und einfachste Angebot, wenn drei Stunden lang von wahrer Zuneigung, reinem Begehren, unverbrüchlicher Treue etc. pp. inbrünstig gesungen wird, aber noch viel herzzerreißender von verschmähter, verratener und durch Intrige ausgehebelter Partnerschaft.
Mit einem Sopran, der dem Parkett so wuchtig entgegenschlägt wie selig-schön klagt, schwingt sich Jacquelyn Wagner auf zum Sternenkreise. Solche stahlgraublauen Augen können nicht lügen! In stolzer Größe repräsentiert sie die zu Unrecht beschuldigte Gräfin Euryanthe, der Libretto und Tonsatz keine Gelegenheit zur Stellungnahme in der Sache einräumen, sondern nur den Aufschrei der Unschuld vom Lande. Gefasst und mit Würde nimmt sie ihr Schicksal hin, als der über alles geliebte Graf Adolar sie, die aufgrund einer Verleumdung wegen Treubruchs Verstoßene, in eine von dichtem Gebüsch umwachsene öde Felsenschlucht führt (die aber jetzt im Theater an der Wien nichts anderes ist als der leergeräumte Salon). Der unaufmerksame Liebhaber will den von ihm erwarteten Ehrenmord an ihr begehen (ja, auch dergleichen gehört zu unserer Rechtsgeschichte, da hat Helmina von Chézy recht!). Am Gewaltakt aus narzisstischer Ich-Kränkung hindert ihn im letzten Moment … doch erst einmal: Halt!
Der Enthusiastin zu meiner Linken, Reihe 3, Platz 3, offensichtlich professionell mit dem Opernbetrieb verknüpft, entfuhr: „Ist sie nicht wunderbar!“ Und als ich verblüfft die Stirn runzele, legt sie noch einen drauf: „Ist sie nicht die geborene Eva?“ Naja. Zwar erinnert Jacquelyn W. und mehr noch der seiner Zeit ‚vorausgreifende‘ Tonsatz weit eher an Elsa und Lohengrin – aber egal, Hauptsache Wagner! Der enthemmten Erinnerung der Stimmfetischistin hätte es freilich nicht bedurft, das allfällige Lob- und Preislied auf diese erhabene Euryanthe anzustimmen. Was aber fällt den neudeutschnationalen Opern-Zombies und den wie Schmieröl funktionierenden „Journalistinnen“ eigentlich ein, nicht nur den großen Europäer Weber fortdauernd zum Vorläufer des schäbigen Genies Richard W. zu degradieren, sondern die kompetentesten SängerInnen seiner Arbeiten nur danach zu bemessen, ob sie auch mit Thielemann in Dresden oder Salzburg … Schnauze!
Heil euch Frauen!
Indem sie die Oper mit Friedensgesängen nach einem schrecklichen Feldzug beginnen ließ, knüpfte Frau von Chézy an einem im Wien der 1820er Jahre vorherrschenden Lebensgefühl an (der Wiener Kongress hatte 1815 die Ära der napoleonischen Kriege beendet): „Nun droh‘n den Helden sanfte Freuden“, locken die Damen. Die Herren des kraftvoll zum Einsatz gelangenden Arnold Schönberg-Chors kontern vom Flügel aus, pflückbereit grienend: „Heil auch den Frauen, den Blumen in des Lebens Kranz“.
Versunken in Gedanken an seine geliebte Euryanthe kehrt Adolar als Sieger aus den Schlachten zurück (bei Loy: psychisch angeschlagen verkriecht er sich während des Staatsempfangs unter die Bettdecke). Der Verlobte seiner Schwester blieb auf der Strecke, weshalb diese sich mit einem vergifteten Ring das Leben nahm. Da dies aber im katholischen Herrschaftsbereich (und also auch in Wien) eine Todsünde war, spukt sie nun – zumindest durch die Köpfe der Angehörigen. Die vertuschen den Suizid.
Euryanthe, so naiv als blond, plaudert das Geheimnis im Burggarten zu Nevers (Bourgogne) aus, als Eglantine ihr anbietet, beste Freundin zu sein (findet bei Loy auch im Bett statt, so ist das halt bei „psychologischen“ Inszenierungen). Die vom Leben Benachteiligte mit dunkelhaarigem Migrationshintergrund sucht einen Anknüpfungspunkt, um sich an Adolar zu rächen. Der hat ihre Avancen abgelehnt. Der Schnösel mit der brillanten Tenorpartie, die Norman Reinhardt weithin meistert, hat nichts Besseres zu tun, als sich von Graf Lysiart eine Wette über die Treue Euryanthes aufnötigen zu lassen. Beide setzen ‚all in‘: ihre sämtlichen Besitzungen. Anstatt den Unfug zu unterbinden, bezeugt König Louis VI, der Geliebte (oder auch der Wahnsinnige), den Ehrenhandel.
Lysiarts Versuch, Euryanthe zu verführen, scheitert kläglich an deren Standhaftigkeit (bei Loy: deren Schlafbedürfnis, konsequenterweise wieder im Bett). Andrew Foster-William, ein fulminanter Bariton, hat sich – vollgeilselbstbewusst – schon einmal präventiv ausgezogen. Aber dann klare Symbolik: splitternackt & bloß steht der Prahler da, hui! und kriegt ihn nicht hoch. Aber er kommt ganz nach vorn bis an die Bühnenkante, um sein Schniedelchen (oder dessen Plastik-Surrogat) der schwulen Kundschaft optimal zu zeigen. Selten war ich über die paar Meter Luftraum über dem Radio-Symphonieorchester Wien so froh wie während dieser Arie (Zwangsvorstellung Geruchsbildung). Constantin Trinks, der umsichtigen Kapellmeister, ließ sich nicht anfechten und trieb die Musik zur kruden Geschichte und ihrer „psychologisierenden“ Inszenierung weiter voran.
Da die Option Euryanthe ausscheidet, verbindet sich der virtuose Wicht Lysiart, die stärkste sängerdarstellerische Erscheinung des Premierenabends, ersatzweise in der hinteren Ecke auf dem Fußboden (o, welch erneut tiefsinnige Symbolik!) mit der Intrigantin Eglantine. Die erhält zum wiederholten Mal Gelegenheit, mit Koloraturen italienischer Provenienz ihre virtuosen Fertigkeiten zu demonstrieren. Theresa Kronthaler, zunächst mit berückendem Schlafzimmerblick im Einsatz, rollt nun mit den Augen, als wolle sie ein Engagement beim Stummfilm ergattern. Sie oder ihr Regisseur müssen hundert Jahre im Dornröschenschlaf verbracht haben.
Bleibt der glückliche Schluss noch zu erzählen. Adolar, der französische Hauptheld dieser treudeutschen Oper, wird im finstern Felsenthal von der aus der „Zauberflöte“ erborgten Riesenschlange am Ehrenmord gehindert. Sie schickt sich an, ihn anzugreifen. Bei Loy ist das Schlänglein – Krönung des amateurpsychoanalytischen Tiefsinns – niemand andere als die böse Eglantine. Die totgeweihte Euryanthe wirft sich zwischen sie und Adolar. ER ist durch Euryanthe gerettet. ER will sie nun nicht mehr wegen ihrer angeblichen Untreue töten, lässt sie aber allein in der Einöde zurück. Der König aber und sein Jagdgefolge, johotrala, finden sie zufällig. Sie stirbt ihnen freilich unter den helfenden Händen weg.
Aber dann kommt Euryanthe doch noch im weißen Brautkleid rechtzeitig zum lieto fine auf die Bühne zurück. Christof Loy hält sie für eine „Leitfigur“ unserer Gegenwart – und ergänzt mit gesundem Geschäftssinn: „Es ist wichtig, auch wenn es im Leben solche Figuren wie Euryanthe nicht wirklich gibt, sie auf der Bühne darzustellen“. Warum eigentlich? Und „wichtig“ für wen?
„Mein Glaub‘ an Tugend ist zerstört“, singt der wie ein EU-Beamter aussehende König Stefan Cerny. Nun, alter Knabe – da sind wir Glaubensbrüder. Was aber die Bezugnahme der Historienoper auf das intellektuelle und kulturelle Elend des gegenwärtigen Kurz-Österreich betrifft, lässt der Regisseur Loy seine ZuschauerInnen schmählich im Stich. Die danken für diese Werkuntreue auch noch mit kurzem höflichem Beifall. Is ja au wuascht. Noch a Achterl, bittschöön!