2018 erfolgreich gestartet, wurde das Festival „Neue Musik Rockenhausen“ im November 2020 von der Corona-Pandemie überrollt. Das Programm in der nordpfälzischen Kleinstadt fand fast ausschließlich hinter verschlossenen Türen statt. Lydia Thorn-Wickert, die rührige Leiterin, ließ sich nicht entmutigen und setzte entgegen dem geplanten Zweijahresturnus auf eine Neuauflage 2021. Als „2-G-plus“-Veranstaltung (mit einer begrenzten Anzahl Getesteter) ging sie in Donnersberghalle und Protestantischer Kirche einigermaßen planmäßig über die Bühne. Mit Toshio Hosokawa als Residenz-Komponisten und jungen Nachwuchskünstlern hatte sie künstlerisch Beachtliches zu bieten.
Am härtesten traf es das Vorabendprogramm im benachbarten Kirchheimbolanden. Dort hätte das Jugendsinfonieorchester der Ukraine unter Leitung von Oksana Lyniv gastieren sollen – unter anderem mit einem Auftragswerk von Zoltán Almási. Ein Covid19-Fall in den eigenen Reihen zwang das Ensemble erst in die Quarantäne und dann auf die Rückreise und machte neben dem Konzert auch den intendierten Kulturaustausch zunichte.
Rätselhaft blieb die Absage der Uraufführung eines Konzerts für Kanun und Orchester von Stefan Pohlit. Ohne jede Erklärung spielte die Deutsche Staatsphilarmonie Rheinland-Pfalz stattdessen die 1897 in Kiew uraufgeführte Sinfonie Nr. 1 g-moll des russischen Komponisten Wassili Kalinnikow (1866-1900) – vielleicht in programmatischer Anlehnung an das geplante ukrainische Gastspiel. Der früh verstorbene Kalinnikow galt in Russland als große Hoffnung einer jungen Musikergeneration, und die Begegnung mit dieser Sinfonie („zwischen Tschaikowski und Schostakowitsch“) bedeutet eine wirkliche Horizont-Erweiterung. Doch sie ist und war eben keine „Neue Musik“, sondern eher der teils bemühte, teils geglückteVersuch, dem vielstrapazierten Sinfonie-Schema nach Beethovenschem Muster noch einmal Originalität abzugewinnen.
Weit näher am Konzept war das Orchester des Pfalztheaters Kaiserslautern. Unter der Leitung von GMD Daniele Squeo präsentierte es Toshio Hosokawas Mozart-Hommage „Lotus under the Moonlight“. Mit seinem ausgeprochen zarten Dialog zwischen Soloklavier und Orchester kommt das Werk Hosokawas Charakterisierung seiner Musik nahe: „Es ist, als wenn man langsam durch einen Garten ginge.“ Man ist hier versucht zu ergänzen: „… und an einem milden Frühjahrsabend das Gras wachsen hörte.“ Der junge japanische Pianist Tomoki Kitamura überzeugte am Flügel nicht nur hier, sondern auch in einem Kammermusikprogramm, das Hosokawa in eine Reihe mit seinem Lehrer Isang Yun und seinem Schüler Federico Gardella stellte.
Der Werkauswahl gemeinsam war im Prinzip die Begegnung von westlicher und ostasiatischer Zeit- und Musikerfahrung, wobei Hosokawas expressiv ausgreifendes Stück „Extasis“ für Violine solo den Rahmen der idyllischen Gartenmetapher sprengte. Die junge Geigerin Fumika Mohri überzeugte mit energischem Zugriff hier ebenso wie zuvor schon (in Yuns „Gasa“ und Hosokowas „Memory“) mit delikaten Tönen. Mit den beiden Cellistinnen Keisuke Morita (in „Memory“) und Yuya Okamoto (in Gardellas „Memorie di Tempesta“) fanden sich ebenbürtige Partnerinnen. Dass – anders als bei seinem Residenz-Vorgänger Helmut Lachenmann 2018 – mit Hosokawa kein Gesprächskonzert stattfand, war bedauerlich.
Neben Kitamura bot das Festival auch anderen Könnern aus dem pianistischen Nachwuchs eine Plattform. Das aus Kirchheimbolanden stammende Klavierduo Clara und Marie Becker spielte insgesamt neun Werke von Olivier Messiaen, Claude Debussy, Philip Glass und Johann Sebastian Bach in geschickt gemischter Reihenfolge – Musik wie in Stein gemeißelt, von geradezu apollinischer Klarheit. Tief ins Wild-Dionysische tauchte Mikhaïl Bouzine (Jg. 1995), der Stücke von Jules Massenet, Claude Vivier, Vladimir Ivanovich Rebikov, Alessandro Solbiati, Cornelius Cardew, Dmitri Schostakowitsch und György Kurtág wie in Ekstase ineinander übergehen ließ. Dass er, während der Klavierstimmer den Flügel vor der Schluss-Nummer der mikrotonal eingefärbten Schlussnummer anpasste, gleichzeitig stehend, gehend und wankend Kurt Schwitters’ „Ursonate“ rezitierte, passte zum Bild eines gut kontrollierten Rauscherlebnisses.
Hatte Bouzine mit dem Klavierduo an Lautstärke schon gleichgezogen, so übertraf er es spätestens bei Clarence Barlows „Çoğluotobüsişletmesi“, als er den rechten Fuß beim Spiel zur Hilfe nahm. Spätestens nach diesem rasanten Stück aus den 1970er Jahren, laut Programm ein in die Musik übertragener „Horrortrip durch die Türkei“, hätte sich ein Nachgespräch angeboten. Geordneter und aufschlussreicher ging es dann wieder bei den Geschwistern Sophie und Vincent Neeb zu, die es sich nicht nehmen ließen, vor ihrer zupackenden Wiedergabe von Bernd Alois Zimmermanns „Monologen“ für zwei Klaviere dem Publikum das Werk mit den darin enthaltenen Zitaten von Bach, Debussy und Messiaen zu erläutern.
Anders als im Vorjahr konnten die beiden wichtigen Jugendensembles aus Rheinland-Pfalz auftreten. Nicht ohne Wehmut erlebte man die traditionsreiche AG Neue Musik des Leininger-Gymnasiums aus Grünstadt, die 2020 ihr 50-jähriges Bestehen hätte feiern wollen. Nun ist das zuvor noch 35-köpfige Ensemble infolge der Pandemie auf eine Rumpfbesetzung von 9 Schulabgängern geschrumpft. In der mit dem Leipziger Klangkünstler Erwin Stache konzipierten Klang-Performance „out of the box“ zeigten die jungen Leute unter der Leitung von Silke Egeler-Wittmann noch einmal, was an fantasiereichem Spiel aus der Begegnung von Menschen, Gegenständen, Klängen und Geräuschen entstehen kann. Den Abschluss bildete ein buchstäblich dahin geworfenes „Happy Birthday“, intoniert auf den Deckeln von Konservengläsern.
Einen nachhaltigen Eindruck hinterließ das von Stefan Kohmann dirigierte JugendEnsembleNeueMusik Rheinland-Pfalz Saar zunächst mit Hosokawas „A song from far away – In nomine“; es folgten dann „Le souvenir presque oublié du pic épeiche“ von Katharina Roth (Jg. 1990) und die Uraufführungen „Inauguration“ von Jonathan Spratte (Jg. 1999) und „Dyschrono“ von Ling-Hsuan Huang (Jg. 1991). Bewundernswert war neben der technischen Sicherheit vor allem, wie die jungen Musikerinnen und Musiker zwischen 15 und 20 Jahren jeweils den Spannungsbogen hielten, selbst als das große Rockenhäuser Kirchengeläut dazwischen tönte. „Inauguration“ bezieht sich mit hohl wirkenden Fanfarenklängen auf die Pandemie-Erfahrung; das Wort „Corona“ ließ den Komponisten an Krönungsakte denken. „Dyschrono“ enthält dagegen klangliche Anspielungen auf das Rockenhäuser Carillon am benachbarten Museum für Zeit. Für letzteres entstand während der Corona-Pandemie Daniele Ghisis „Rockenhausen-Almanach“ aus 52 Klangminiaturen, von denen die letzten 25 beim Festival ihre Uraufführung erlebten. Reizvoll wäre es, diese individuell konzipierten und betitelten Zeitdokumente einmal in einem musikalisch-literarisch-zeitgeschichtlichen Gesamtprogramm zu erleben.