Bertolt Brechts 1948 im amerikanischen Exil uraufgeführtes Schauspiel „Der kaukasische Kreidekreis“ hat längst seinen Platz im Literaturkanon gefunden, während Alexander von Zemlinskys letzte vollendete Oper „Der Kreidekreis“, 1933 in Zürich uraufgeführt, heute als echte Rarität gilt. Beide Stücke gehen auf Klabunds 1925 entstandenes Erfolgsstück zurück, das seinerseits auf einem chinesischen Märchen aus dem 13. Jahrhundert beruht. Nun hat das Badische Staatstheater Karlsruhe die zwischen Sozialdrama und Parabel, zwischen Kriminalstück und Märchen changierende Geschichte in einer kühlen, analytischen Regie von Sebastian Ritschel auf die Bühne gebracht (besuchte 1. Folgevorstellung: 21.6.).
Distanzierter Zugang mit Akzenten – Zemlinskys „Der Kreidekreis“ in Karlsruhe
Die Inszenierung hilft, die kleinteilige, von ganz unterschiedlichen musikalischen Stilen geprägte Oper zusammenzuhalten. Auch musikalisch bleiben unter der Leitung von Johannes Willig kaum Wünsche offen. Nur die Balance gerät manches Mal in Schieflage, wenn die aufmerksame Badische Staatskapelle bei dramatischeren Passagen manche Solisten ein wenig zudeckt.
Der Kreidekreis ist in Karlsruhe ein Lichtkreis, der immer wieder vom Schnürboden heruntergelassen wird. Wie auf einer extra Bühne stellen sich hier in diesem hellen Rund die weiß geschminkten Figuren vor, was an das Brechtsche epische Theater erinnert. Aber auch zu zentralen Szenen wie der Gerichtsverhandlung oder der eigentlichen Entscheidung, wer nun die Mutter des Kindes ist, wird der Kreis, der auch eine übergeordnete Gerechtigkeit darstellen soll, verwendet.
Die Bühne besteht aus einem Container, in dem das Bordell des Kupplers Tang (wendig: Klaus Schneider) untergebracht ist. Auf der anderen Seite der Drehbühne steigt eine Metalltreppe empor. Sie verdeutlicht eine klare Hierarchie zwischen Oben und Unten, zwischen Macht und Ohnmacht. In diesem kühlen Setting (Ausstattung: Sebastian Ritschel, Barbara B. Blaschke) dauert es eine Weile, bis Zemlinskys Oper Sogkraft entwickelt. Das liegt aber auch Zemlinskys von vielen Pausen durchsetzter Musik, die zwischen Spätromantik und neuer Sachlichkeit mäandert. Dass der Komponist mitten im Entstehungsprozess von „Der Kreidekreis“ in Berlin Kurt Weills von Unterhaltungsmusik beeinflusste Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ (Libretto: Bertolt Brecht) dirigierte, merkt man schon beim Beginn, wenn Saxophon und gedämpfte Trompeten auf den pulsierenden Achteln der Streicher ihre Kreise ziehen. Auch der hohe Sprechanteil der Figuren, häufig als Melodram über der im Orchestergraben gespielten Musik gesprochen, ist sicherlich von Weill/Brecht inspiriert. Dirigent Johannes Willig gelingt es mit der Badischen Staatskapelle, blitzschnell zwischen den verschiedenen Stilen zu wechseln. Transparent und kammermusikalisch klingt das Orchester, in den emotionalen Ausbrüchen wird der Klang üppiger, ohne dabei an Durchsichtigkeit zu verlieren. Die Musik ist ganz nah an der Szene und kommentiert die Handlung in jedem Takt.
Tschang-Haitang (ungemein vielschichtig: Pauliina Linnosaari) muss nach dem Selbstmord ihres Vaters ins Bordell, um für den Unterhalt ihrer Mutter (präsent auch als Hebamme: Christina Niessen) zu sorgen, was den großmäuligen Bruder, der allerdings selbst nichts gebacken bekommt (nicht immer gut zu hören: Julian Orlishausen), erbost. Der mächtige Mandarin Ma, dem Renatus Mészár Strahlkraft verleiht, kauft Haitang, die ihm ein Kind gebärt und ihn mit ihrer Sanftmütigkeit sogar zu einem liebenden Partner macht. Gegenwind kommt von Mas erster Gattin Yü-Pei (bedrohlich: Barbara Dobrzanska), die ihn vergiftet und vor Gericht mit gekauften Zeugen und bestochenem Richter Tschu-Tschu (schön schmierig: Marcus Calvin) Haitang des Mordes beschuldigt und ihre Mutterschaft anzweifelt. Am Ende taucht Prinz Pao (mit hellem Tenor: Matthias Wollbrecht) als Deux ex machina auf, findet mit dem Kreidekreis die richtige Mutter und präsentiert zu üppigen Orchesterklängen Haitang als seine neue Frau. Dass das Kind in der Karlsruher Inszenierung auch als (kleiner) Leuchtkreis dargestellt wird, ist in Ritschels Regie der Abstraktion zu viel und wirkt vor allem im Schlussbild unfreiwillig komisch. Aber insgesamt passt sein distanzierter Zugang in Schwarz-Weiß-Ästhetik mit einigen roten Akzenten gut zur gleichnishaften Geschichte. Der strenge Rahmen hilft auch, Zemlinskys harmonisch und rhythmisch reiche, stilistisch breite Musik, die allerdings nur selten größere Bögen oder einprägsame Melodien entwickelt, noch mehr Struktur zu verleihen. Lohnend ist eine Reise nach Karlsruhe, um diese Ausgrabung zu entdecken, allemal.
- Weitere Vorstellungen: 4./14./16./20. Juli 2024, www.staatstheater.karlsruhe.de
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