Für den Intendanten Florian Lutz sind Raumbühnen-Inszenierungen zu einem Markenzeichen geworden. Eigene und die von Kollegen. Das war während seiner Intendanz in Halle so und ist es jetzt auch in Kassel. Die aktuelle Raumbühne, die von ihrem Schöpfer, dem in Kassel als „Hausszenograf“ firmierenden Bühnenbildner Sebastian Hannak den überbaumetaphorischen Namen „Antipolis“ bekam, ging mit einer „Carmen“-Inszenierung des Hausherrn (NMZ vom 15.10.2023) in Betrieb. Sie wird bei dem Aufwand natürlich gleich für mehrere Inszenierung genutzt. Was „Carmen“ angeht, ist es offensichtlich so, dass sich die Zuschauer gerne mal als Zigarettenarbeiter einsetzen und in eine überwachungsstaatliche Verschwörung hineinziehen lassen, um bei der Gelegenheit Carmen näher als üblich zu kommen und sich nebenbei auch noch von der Musik mitreißen zu lassen.
Don Giovanni in Kassel: Das Problem sind die anderen.
Nicht ohne Stolz vermerkt das Staatstheater für diese Produktion eine 100 prozentige Auslastung. Insgesamt rechnet man in diesem Jahr sogar mit der besten Dezemberauslastung der letzten 15 Jahre! Weder die Coronafolgen, noch die Raumbühne haben hier also zu nachhaltigen Besucherrückgängen geführt. Eher im Gegenteil. Dazu kommen allein seit Mai weit über 900 neue Abos (was die Kündigungen deutlich überkompensiert). Zugleich eskaliert in Kassel via Regionalpresse eine Kontroverse um das Auswahlverfahren eines Nachfolgers für den rechtzeitig angekündigt ausscheidenden GMD Francesco Angelico, die wohl durch Indiskretionen, durch wen auch immer, so angefacht wurde, dass Anwälte einen Teil der Kommunikation übernommen haben, Gerichte eingeschaltet wurden und nun Führungssensibilität des Hauses auf die Probe gestellt wird.
Entwicklung der Carmen-Inszenierung lässt auf technische Verbesserungen hoffen
Vor allem aber gilt’s – gerade bei wachsendem Zuschauerzuspruch – natürlich auch hier der Kunst. Für die „Don Giovanni“-Inszenierung von Paul-Georg Dietrich hat Hannak die Raumbühne atmosphärisch modifiziert. Auch im vorherrschenden Schwarzweiss-Karo-Ambiente befindet sich das Orchester und sein Dirigent Mario Hartmuth wieder sichtbar mitten im Zentrum des Geschehens. Akustisch behauptet es sich ohne aufzutrumpfen. Den Zuschauerraum teilt ein aufsteigender Laufsteg in der Mitte in zwei Hälften. Die Seitenlogen, die Hinter- und alle Seitenbühnen sind zeitweise oder dauerhaft mit Zuschauerplätzen in der (wörtlich und im übertragenen Sinne) allerersten Reihe ausgestattet. Dazu erlauben es mehrere Groß- und ein paar kleinere im Bühnenraum verteilte Bildschirme den „Hausvideokünstlern“ Christopher Fromm und Konrad Kästner dafür zu sorgen, dass die Zuschauer zumindest über die live gedrehten Nahaufnahmen überall, auch in den entlegensten Gegenden dieser Bühnenlandschaft, dicht am Geschehen bleiben können. Das gelingt diesmal jedenfalls besser als die akustische Balance der mit Mikroports ausgestatteten Sänger. Eigentlich beim Gesang in der Oper verpönt, lassen sich Mikroports akzeptieren, wenn die Protagonisten ausgedehnte Sprechpassagen zu bewältigen haben oder wie hier die Tücken einer extravaganten Raumstruktur überbrückt werden sollen. Nur müsste es dann halt so funktionieren, dass man technisch bedingte Schwankungen nicht dauernd bemerkt. So deutlich wie auf den vorderen Parkettplätzen bei „Don Giovanni“ waren diese Beeinträchtigungen etwa bei „Wozzeck“ oder „Carmen“ auf Plätzen innerhalb der Raumbühne jedenfalls nicht. Wer die Wahl hat, sollte sich am besten auf die konsequente Veränderung der Seh- und Hörperspektive innerhalb der Raumbühne selbst einlassen. Oder auf eine Nachjustierung der Tontechnik hoffen, die auch bei der „Carmen“-Inszenierung – so Florian Lutz – ab der dritten Vorstellung wirklich zufriedenstellend erreicht war.
Trotz dieser Einschränkungen konnte das Protagonisten-Ensemble mit darstellerischem Einsatz und vokal überzeugen: bei den Frauen allen voran Ralitsa Ralinova als ziemlich selbstbewusst zupackende, doppelbödige Donna Anna und Margrethe Fredheim als emotional auftrumpfende Donna Elvira. Aber auch Marie-Dominique Ryckmanns verfügte über die Intensität, sich gegenüber den Attacken ihres Masetto zu behaupten und selbst in die Offensive zu gehen. Der ist beim markant kernig singenden Nicholas Crawley ziemlich machohaft drauf. Filippo Bettoschis Don Giovanni beglaubigt vokal das strotzende Selbstbewusstsein des exemplarischen Verführers ebenso glaubhaft wie er es mit seinen wechselnden Kostümen (die ihn verschiedenen Epochen zu weisen) darstellt. Optisch bewusst erstaunlich ähnlich Leporello und Don Ottavio, die beide auch mal ihre (nackte Oberkörper-)Haut zu Markte tragen. Serhii Moskalchuk überzeugt mit seinem äußerst virilen Leporello als Juniorpartner Don Giovannis, um am Ende ernsthaft gegen ihn zu rebellieren. Johannes Strauß wiederum hat als Don Ottavio genau soviel kernigen Tenor-Schmelz parat, um seine Rolle nicht als Weichei zu denunzieren.
Die „Content Note“ (Englisch muss offenbar sein) auf der Homepage des Theaters, die „Menschen mit Vorerfahrungen“ vor möglicher Retraumatisierung warnt, weil „körperliche, seelische und sexualisierte Gewalt gezeigt“ wird und das Libretto „sexistische Sprache“ beinhaltet, müsste für diese Inszenierung (wenn man diese Art von vorauseilender Übervorsicht und notorischer Unterschätzung des Publikums ernst nehmen würde) freilich auch ausdrücklich an Männer adressiert werden: Denn denen wird hier nämlich arg mitgespielt. Das Gastmahl, zu dem Don Giovanni am Ende den Komtur bittet, wird bei Dittrich zu einem Gesprächskreis (vom Parkett aus hinter dem Orchester gerade noch erkennbar) bei dem Don Giovanni zunächst angeschnallt auf einem Stuhl sitzt und alle anderen Gericht über ihn halten. Samt körperlicher Attacken und demonstrativer Erniedrigungen. Hier tut sich besonders Leporello wie eine Personifizierung von Don Giovannis dunkler Seite hervor. Sie alle übernehmen die anklagende und auch gleich noch richtende Rolle des Komturs. Am Ende wird ein offensichtlich toter Don Giovanni im Rollstuhl an die Rampe gefahren. Um den von allen als „Verbrecher“ bezeichneten züngeln aber nicht die Flammen der Hölle, sondern über die Bildschirme flimmern Schlagworte wie „Treue“, „Anstand“, „Hoffnung“, „Rettung“, „Ordnung“. Auch eine Version von Hölle. Beziehungsweise der Sound einer Welt, in der ein Libertin wie Don Giovanni nur stört.
Rätselhafte Inszenierungseinfälle
Bei Dittrich fragt man sich ohnehin, was eigentlich wirklich gegen ihn vorzubringen wäre. Er ist auch hier kein mitfühlender Sympathikus – aber ein Verbrecher? Hier verschuldet er nicht mal den Tod des Komtur (angemessen dröhnend: Don Lee). Im Getümmel nach der Liebesnacht mit Donna Anna (die Version, die sie Ottavio über die Begegnung mit Don Giovanni in ihrem Schlafzimmer auftischt, nimmt man ihr eh nie ab – dieser Donna Anna glaubt man sie aber auf gar keine Fall!) hat sie die Pistole in der Hand als der Schuss losgeht und ihren Vater trifft. Am Ende des ersten Teils flieht Don Giovanni nicht, sondern ihm wird am Herzen eine Wunde zugefügt. Wenn der zweite Teil dann mit der am Anfang eingesparten Ouvertüre begonnen wird, ist er folgerichtig in einer tiefen Krise, mit der er sich mit einer Flasche hinwegtröstet. Das erschließt sich – andere szenische Einfälle bleiben ein Rätsel. Etwa die aufmarschierenden Virus-Männchen Masettos, die Don Giovanni auch hier in die Irre nach links und rechts fehlleitet.
In Kassel ist es so, dass die ziemlich gleichgeschaltete (mit wasserstoffblonden Perücken und im Look von Anna Rudolph) typgleich kostümierten Zeitgenossen Don Giovannis das Problem sind und nicht der von der Norm abweichende. Die Schals mit dem Aufdruck „Ich habe mich entschieden“ meinen da wohl ein Votum gegen dessen „Viva la Liberta“. Der Beifall war am Ende wohl- aber auch endenwollend.
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