Giacomo Puccinis „Il Trittico“ ist schon deshalb ein Unikum, weil eine Formalie für den Titel sorgt und nicht der Inhalt. Weder im Ganzen, noch gedrittelt. Drei Geschichten von zwei Librettisten. Giuseppe Adami lieferte die Vorlage für „Il tabarro“ (Der Mantel) und Giovacchino Forzano die für „Suor Angelica“ (Schwester Angelica) und „Gianni Schicchi“. Etwas handfestes, dann etwas lyrisch Tragisches und zum Abschluss etwas Heiteres. Das dann obendrein mit dem popularitätsfördernden Wunschkonzerthit „O mio babbino caro“, mit dem eine Tochter ihren Papa einwickelt und das Puccinipublikum gleich mit.
Tobias Kratzer hat die drei Teile auch in ihrer Reihenfolge so belassen, wie sie 1918 an der New Yorker MET uraufgeführt wurden. Was heutzutage durchaus nicht immer so gehalten wird. Calixto Bieito etwa hatte 2015 an der Komischen Oper „Gianni Schicchi“ mit „Herzog Blaubarts Burg“ von Bartok konfrontiert.
Aber auf Kratzer ist, auch was kluge Werktreue betrifft, Verlass. Die Qualität seiner Inszenierungen ist verlässlich hoch; der Zugang (gemeinsam mit Stammausstatter Reiner Sellmair) jedes mal anders. Im Falle von Puccinis sonderbarer Miniopern-Melange wird gar nicht erst versucht, mit der Dramaturgenbrechstange quasi eine Geschichte aus den drei so verschiedenen Stücken zu machen. Ihre Unterschiedlichkeit wird durch einen Genrewechsel bei ihrer Umsetzung sogar ausgestellt. Wenn sie aber auf gewisse untergründige Bezüge verweisen, dann mehr mit augenzwinkerndem szenischen Witz und nicht mit einer Überschreibungsbehauptung.
So tauchen etwa Szenen aus dem dritten Stück im TV-Programm beim Personal des ersten auf. Der Mantel wiederum gehört zu der heimlich konsumierten Comic-Kost der frommen Schwestern und setzt obendrein, wenn die Obernonne ihn mit dem Schwung der Verachtung ins Feuer wirft, das ganze Kloster in Brand. Das himmelöffnend ausufernde Finale dieses mittleren Stückes hört sich dann der hier noch kurz lebendig mitspielende Erblasser des dritten Stückes auf seiner Lieblings-Schallplatte kurz vor seinem plötzlichen Hinscheiden an, mit dem dann die eigentliche Handlung der Komödie einsetzt.
Der Zusammenhang, den Kratzer so herstellt, reflektiert – wenn man so will auf einer Meta-Ebene – den der Musik. Da ist Puccini wie immer ganz bei sich. Arienfutter und Gefühlswogen, dass es nur so kracht. Wenn hier die Emotionen erstmal lodern, dann wird auch ein Lastkahn zu einer Titanic im Graben. Und Orchesterchef Alain Altinoglu nimmt als Kapitän allemal große Puccini-Fahrt auf.
Im ersten Stück, „Il tabarro“, erleben wir das tödliche Ende einer geradezu klassischen Eifersuchtsgeschichte. Die einstige Liebe des Schiffer-Ehepaares Michele (wuchtig: Péter Kálmán) und Giorgetta (Lianna Haroutounian konnte als Zweitbesetzung in der Premiere glänzen – die Generalprobe war aus den heute allzu bekannten Gründen ausgefallen) hat den Tod des gemeinsamen Kindes nicht überstanden. Sie flieht in eine Affäre mit dem smarten Angestellten Luigi (mit dosiertem tenoralen Draufgängerhabitus: Adam Smith). Michele leidet an ihrer Zurückweisung und steigert sich (nicht ohne Grund) in seine Eifersucht. Auf engem Raum und in prekärer Lage ist die Katastrophe unausweichlich – Michele ermordet seinen Rivalen. Der titelgebende Mantel, der einst Giorgetta gewärmt hat, bedeckt jetzt den Ermordeten.
Die Bühne imaginiert die Enge des Lastkahns. Oben links die Brücke nebst Reling vor nächtlicher Skyline, darunter der nüchterne Lagerraum, rechts oben die Schlafkabine des Ehepaares samt TV, darunter eine nächtliche Promenade am Hafen mit diversen Damen auf professioneller Kontaktsuche.
Nach der ersten Pause gibt es nicht nur wegen des Puccinisounds, sondern auch ganz direkt großes Opernkino. Hier haben sich Sellmair und Videomann Manuel Braun vom französischen Nouvelle-Vague-Kino inspirieren lassen. Man sieht die Schwestern in einem echten Klostergebäude auf der Großleinwand. Beim gemeinsamen Beten, der Arbeit im Garten und bei ihren Heimlichkeiten in ihren Zimmern. Gesungen wird live an der Rampe. Sie bewegen sich wie gewöhnliche Menschen, habe Wünsche und kleine Schwächen. Was hier heimlich geschmuggelt wird, ist eine Grafik-Novel mit dem Titel Il tabarro. Schwester Dolcina frönt ihrer Vorliebe für Naschereien in Heißhungerattacken. Im Kern aber ist es die Sehnsucht der von der Familie ins Kloster verbannten Angelica (wieder: Lianna Haroutounian) nach jenem Kind, das man ihr einst entrissen und weswegen man sie ins Kloster gesteckt hat. Die Tragik ihres Schicksals wird offenbar, wenn sie den langersehnten Besuch tatsächlich bekommt. Der aber stellt sich als die kaltherzige Tante (vehement und auf schicke Dame gestylt: Raehann Bryce-Davis) heraus, die nur gekommen ist, um sich den Erbschaftsverzicht Angelicas abzuholen. Als sie ihr mitteilt, dass ihr Sohn vor zwei Jahren verstorben ist, ist das für Angelica der Todesstoß. Im Sterben sieht sie den Jungen in den Flammen des Klosters auftauchen. Die Konfrontation des hochdramatischen Verzweifelns mit der filmischen Schwarz-weiß-Ästhetik schafft Distanz und Nähe zugleich.
Nach der zweiten Pause dann haben sich die Reihen im Zuschauersaal merklich gelichtet. Das ist aber nicht das Ergebnis einer etwaigen Fluchtbewegung (in Brüssel sind Masken eine freiwillige Angelegenheit und 4 Stunden Bruttospielzeit angekündigt). Etwa einhundert Zuschauer beziehen für den dritten Teil des Abends auf der Bühne vis a vis zum Saal ihre Plätze. Als Zuschauer auf der Bühne, deren aktives Mitwirken wie bei einer Talkshow von Helfern mit „Applause“ Tafeln dirigiert wird. Erst nur auf der Bühne, dann auch im Saal. Funktioniert aber auch so. Es ist halt ein Klassiker, wenn die ganze Verwandtschaft versucht, die besten Stücken aus dem Vermögen des Buoso Donati zu ergattern. Der hat alles einem Kloster vermacht (vermutlich dem aus dem Stück davor). Und nun will seine Sippschaft mit Hilfe des stadtbekannten Schlitzohres Gianni Schicchi (für den wieder auftauchenden Peter Kálmán wie maßgeschneidert!) ein falsches Testament erstellen und notariell beglaubigen lassen. Am Ende sind sie alle (angeführt von der wunderbar komödiantisch aufdrehenden Elena Zilio als Zita) die betrogenen Betrüger. Gianni bedenkt natürlich – als falscher Donati – seinen „guten Freund Gianni Schicchi“ mit den Filetstücken aus der üppigen Erbmasse. Nur Tochter Lauretta (Benedetta Torre) und ihr Rinoccio (nochmal: Adam Smith) werden wohl noch öfter in den Pool steigen dürfen, der in Donatis Wohnzimmer per Knopfdruck plötzlich aus der Versenkung aufgetaucht war und in dem sie alle mal eine Runde Planschen im Schaumbad gespielt haben.
So endet ein ernster Abend in ernsten Zeiten wie erwartet vergnüglich und wird mit viel Beifall bedacht. Und Tobias Kratzer hat gezeigt, dass er auch mit einem Stilwechsel an einem Abend souverän umzugehen und sich dicht an den Stücken entlang zu bewegen vermag. Zum echten Geniestreich wird dann wieder im Sommer auf dem Grünen Hügel geblasen.