Nach 17 Jahren bringt das Mecklenburgische Staatstheater Schwerin bei seinen 24. Schlossfestspielen wieder Verdis „Aida“ auf die Open-Air-Bühne. Das besondere Attraktivitäts-Potenzial dieser Festspiele, die sommers bis zu 30.000 Besucher anlocken, liegt in ihrem reizvollen Ort: Der Alte Garten, ein städtischer Platz, besäumt von Burgsee und Schlossinsel.
Rechts sieht man den schönen romantischen Nachbau des Loire-Schlosses Chambord, links den repräsentativen Residenz-Theaterbau vom Ende des 19. Jahrhunderts, und im zentralen Durchblick über das Bühnengeschehen eine klassizistische Fassade mit pompöser Freitreppe – ständig sichtbar die Giebelinschrift „Museum“ (Ist dies ein Zeichen?).
Auch diesmal nutzen der Liechtensteiner Georg Rootering als Regisseur und die Schweizerin Romaine Fauchère als seine Ausstatterin, die in den unmittelbaren Vorjahren schon „Nabucco“ und „Traviata“ hier in Szene gesetzt haben, dieses Ambiente für eine spektakuläre Breitwand-Raum-Installation mit enormem quantitativem Aufwand: 200 Mitwirkende, darunter ein 80-köpfiger Chor und die Mecklenburgische Staatskapelle, 300 Kostüme, dazu ein Elefant und zwei Kamele, auf einer 30 mal 30 Meter großen Bühne.
Es scheint, als wolle Rootering, der ein durchaus feinsinniger Indoor-Bühnenregisseur ist (was er in Schwerin mit einem beeindruckenden „Eugen Onegin“ bewiesen hat) mit seinen Schweriner Produktionen nur ausprobieren, wie sich ihm die spezifische Open-Air-Ästhetik fügt (auf seiner persönlichen Website erwähnt er sie kaum). Sie fügt sich ihm nicht restlos. Er folgt ihrer Tendenz zur großartigen Flächigkeit, an der Oper das Opernhafte besonders hervor zu treiben, kann aber nicht besonderes Raffinement bei der Umsetzung intimer Psychologie in großformatige Symbolik entfalten – das Musikdrama bleibt szenisch auf der Strecke. So zielt auch seine „Aida“ darauf, das Publikum eher genussvoll zu unterhalten als seelisch zu beunruhigen, was aber Verdis geniale Kreuzung aus Prunkoper und innerem Musikdrama nur halb ausschöpft.
Rootering und Fauchère verzichten dabei weitgehend auf altägyptische Exotik. Die karge abstrakte Bühne ist von Anfang an vertikal gegliedert, das Obergeschoss für die Mächtigen, das Untergeschoss für die Ohnmächtigen; aber dieses Prinzip wird genau dort, in der Schlussszene, wo es seine besondere Signifikanz – auch nach dem Willen Verdis – entfalten sollte, fallen gelassen: Der Priesterchor bleibt unsichtbar, das Obergeschoss fast leer.
Diese Bühne füllt sich immer neu mit farbig bewegten Tableaus: Ägyptische Soldaten in modernen Khaki-Uniformen mit gegürtetem Revolver, Priester rot-weiß-golden berockt, Priesterinnen im blau-weißen arabischen Schleier, die gefangenen Äthiopier in orangenen Guantanamo-Overalls, das „Volk“ im bourgeoisen Frack und Belle-Èpoque-Kleidern, der nur im Video erscheinende König als moderner „Pharao“ in historisierender Uniform. Das ist prunkvoll, farbenprächtig und dekorativ, von geschmackvoller Schönheit, aber nicht immer sinnfällig und stringent.
Unverkennbar, auf diese Weise soll die alte Geschichte vorsichtig durchsichtig für moderne Bezüglichkeiten werden, unterstützt durch auf pyramidale Schrägen gebeamte undeutliche Bilder aus dem arabischen Konfliktraum. Aber dies schreckt nicht wirklich auf, bleibt meist diffus und unverbindlich. Es gelingt am besten in der großen Triumph-(Marsch)-Szene, in der der militärische Siegesjubel fragwürdig gemacht wird – bis hin zu den regnenden ironischen Goldfäden.
Unter dieser flächigen Großartigkeit leidet die Geschichte zwischen Amneris, der ägyptischen Prinzessin, dem Feldherren Radames und der Sklavin Aida, in der diese im Widerstreit von vaterländischer Loyalität und persönlichem Liebesstreben in das Räderwerk der Macht geraten und darin zermalmt werden. Hier dünnt sie sich eher zum allgemeinen Stimmungsbild von der Liebe in den Zeiten des brutalen Krieges aus – auch weil Rootering dafür nicht immer charakteristische Arrangements einfallen. Da gibt es kleinteilige Szenen von klischeehafter Unerheblichkeit. Häufig gibt es auch zeichenhafte szenische Ansätze, die aber nicht durchgeführt und dann liegen gelassen werden. Die imposante Museums-Freitreppe wird nur am Anfang beiläufig genutzt, dann wird ihre Existenz vergessen. Die unterstellte triebhafte innere Situation der Amneris wird in einen Pas de Deux projiziert, von billiger Laszivität ausgerechnet zur unpassenden Musik des Tanzes der kleinen Mohren, aber das Verfahren bleibt singulär. Der Nilakt, eine poetisch-dramatische Outdoor-Szene, und die Grabesszene spielen auf einem blauen Sofa. Der gemeinsame romantische Liebestod – gegen das Libretto und den Pianissimo-Schluss – wird durch einen sentimental-theatralischen Dropkick überstylt: Radames erwürgt Aida und schluckt dann das von ihr vorsorglich mitgebrachte Gift und stirbt den üblichen Operntod. Dies führt zu einem Mangel an erhellendem Beziehungsreichtun, der durch den äußeren opulenten Glanz nur überdeckt wird.
Tieferer Glanz ging vom Musikalischen aus, mit einer für Schweriner Verhältnisse exzeptionellen Gestaltung, die dem Geschehen eine innere Intensität gab, die es szenisch nicht immer hat: Das Orchester unter dem 1. Kapellmeister Gregor Rot musizierte deutlich, mit federndem dramatischen Brio und auch mit melodischer Geschmeidigkeit, die anspruchsvollen Chöre mit Wucht und Geheimnis, ein vorzügliches Solistenensemble, zumeist international renommierte, Belcanto erfahrene Gäste, darunter Aurore Ugolin als Amneris, nuancenreich im machtbewussten Stolz, Yannick-Muriel Noah als Aida, bewegend in ihrer lyrischen Innerlichkeit, und der Schweriner Steffen Schantz als Radames, der hier mit Bravour sein Debüt im Belcanto-Fach gab, dazu Krum Galabov als Amonasro, Ziyan Atfeh als Ramphis und zudem aus dem Schweriner Ensemble Sebastian Kroggel (König), Alexander Tremmel (Bote) und Stamatia Gerothanasi (Priesterin).
Gewirkt hat es offensichtlich: Die 1.660 Premieren-Besucher haben begeisterten Beifall gespendet. Aber wer sagt, dass dies nicht auch so gewesen wäre, wenn es keine Defekte gegeben hätte?