Wenn der Amtsantritt einer neuen Intendanz und die Spielzeiteröffnung zusammenfallen, sind die Erwartungen natürlich besonders hoch. Nach der ersten Premiere sprachen die Fakten für sich: 15 Minuten Premierenapplaus sind für Dresdner Verhältnisse ein deutliches Zeichen. Einhellige Zustimmung, also ein gelungener, ein vielversprechender Auftakt.
Peter Theiler hätte es sich zu Beginn seiner Dresdner Amtszeit sicherlich etwas einfacher machen können, mit italienischer Oper zum Beispiel, mit Mozart, Strauss oder Wagner. Doch er hat absichtsvoll auf Arnold Schönbergs „Moses und Aron“ gesetzt, was wohl als ziemlich gewagt einzuschätzen ist.
Das Ergebnis war ein großer Opernabend in Dresden: Mit der Spielzeiteröffnung des neuen Intendanten, der ab dieser Saison die Geschicke der Semperoper übernahm, soll der Operntanker an der Elbe wieder Fahrt aufnehmen und den Kurs in Richtung Internationalität einschlagen. Seit dem Tod von Intendantin Ulrike Hessler war dieser Posten verwaist, da gab es zunächst die peinliche Posse um den Belgier Serge Dorny mit einem teuren juristischen Nachspiel und dann ein langes, insgesamt doch recht ausgewogenes Interim unter dem Kaufmännischen Geschäftsführer Wolfgang Rothe, der nach seiner kommissarischen Intendanz nun wieder in die zweite Reihe der Sächsischen Staatstheater rückt.
Peter Theiler, gebürtiger Schweizer und bis vor kurzem noch Staatsintendant in Nürnberg, hat es sich mit Arnold Schönbergs Oper „Moses und Aron“ zum Amtsantritt an der Semperoper nicht unbedingt einfach gemacht. Das Zwölfton-Fragment ist bis heute ein gewichtiger Brocken Musiktheater-Literatur, also ein Risiko in mehrfacher Hinsicht. Zum einen gilt Schönbergs Musik bei manchen Leuten heute noch als modern, schräg und schwer konsumierbar, zum anderen ist diese Oper musikalisch so anspruchsvoll, dass man ihr hinsichtlich Besetzung, Chor und Orchester auch gewachsen sein muss, und nicht zuletzt hat Peter Theiler mit dem spanischen Regisseur Calixto Bieito auf einen vermeintlichen Skandaleur gesetzt. Das war schon ein deutliches Wagnis, zumal im eher traditionshörigen Dresden.
Calixto Bieito hat sich zwar seinen Ruf als provokanter Skandalregisseur fleißig erarbeitet und damit mal das Publikum, mal die Presse, nicht selten auch beide heftig verstört. Doch waren Provokationen nie sein vordergründiges Ziel, wie er wiederholt glaubhaft bekundet hat.
In Dresden ist er mit „Moses und Aron“ ganz und gar souverän umgegangen. Er hat diese geistliche Oper, in der es um die Auslegung des vermeintlich „einzig wahren“ Glaubens geht, gründlich gedeutet und seinerseits ausgelegt. Er hat die Verführbarkeit des Volkes vorgeführt, dessen Sehnsucht nach einer starken Hand, einem „Führer“, und nach möglichst anbetungswürdigen Symbolen ausgelotet. Nicht allzu tief, schon gar nicht zwanghaft aktualisierend, doch nachvollziehbar, anregend und nachdenklich stimmend.
Sein Moses kann also noch so sehr vom Einzigen, Ewigen, Allgegenwärtigen, Unsichtbaren und Unvorstellbaren künden – das Volk, die Masse, will sich ein fassbares Bild machen. Und Bruder Aron, der dem Gottesfürchtigen quasi das Sprachrohr sein soll, sorgt für all diese Bilder.
Bei Calixto Bieito und seinem bewährten Team Rebecca Ringst (Bühnenbild) und Ingo Krügler (Kostüme) sind diese Bilder in eine schwarz-weiße Bretterlandschaft gesteckt. Die Wüstenwelt, aus dem das „auserwählte“ Volk – überwiegend mit Arbeits- und Alltagsklamotten unterwegs – herausgeführt werden soll. Aber wie diese Massen geführt werden – immerhin sind ja vier Chöre besetzt! -, das ist ganz große Kunst. Da werden einzelne Individuen zum gesamten Corpus, also ent-individualisiert, da wird aber auch das Publikum mit einbezogen, indem schon in der Eingangsszene mit den Stimmen aus dem Dornbusch, die Moses zu hören vermeint, die Chöre auf der Bühne und ringsum im Saal verteilt sind, das Auditorium also mittendrin ist und sich somit als Teil des Geschehens verstehen darf.
Wenn es später dann zum Tanz um das Goldene Kalb kommt, was ja in dieser Oper immer wieder eine Schlüsselszene darstellt, dann bricht das Schwarz-Weiß plötzlich in einer Farbigkeit auf, die den Blick in die Zukunft, in die Verheißung einer digitalen Datenwelt suggerieren soll. Bieito stellt ein nacktes Cyber-Menschen-Paar auf die Bühne, deutet Obsessionen an, Zügellosigkeiten, von denen Moses, als er nach 40 Tagen endlich mit den Gesetzestafeln vom Berg zurückkehrt, nur entsetzt sein kann.
Er setzt auf absoluten, auf bedingungslosen Glauben, auf Unterwerfung also, während Aron mehr laviert und überwiegend ein Plädoyer auf die wissenden, die liebenden und furchtlosen Menschen ausspricht.
Trotzdem ist zum Schluss bei Bieito alles wieder schwarz-weiß, die Staub- oder Wolkensäule, mit der Aron das Volk nun hinwegführt, weiterführt oder vielleicht wieder verführt, wird von Schottersteinen ausgelöst, die aus einer riesigen Baggerschaufel auf die offene Bühne abgekippt werden.
Das sind somit eindrucksvolle Bilder ohne Provokationspotential, von der Selbst-Entlarvung des dummen, so rasch verführbaren, stets glauben wollenden Volkes einmal abgesehen, die bei Glaubensdogmatikern natürlich für Widerspruch sorgen dürfte.
Und auch akustisch hat diese Premiere absolut überzeugt, Schönbergs Opernfragment ist schließlich schon längst kein Schocker mehr, für die meisten Leute jedenfalls nicht. Im Premierenpublikum war deutlich zu sehen, dass sowohl großes Interesse und große Offenheit mitgebracht worden sind als auch hoher Anspruch – und dem wurden die Protagonisten in dieser Neuproduktion allesamt bestens gerecht. Das gilt für die Titelpartien – John Tomlinson als Moses blieb durchweg grandios, geradezu betörend mit seiner exakt notierten Sprecherrolle. Ein Fanatiker des Glaubens, der zum Schluss sein berühmtes „O Wort, du Wort, das mir fehlt“ ins Publikum stanzt und an der Unerfüllbarkeit seines eigenen Bekehrungsanspruchs verzweifelt. Lance Ryan als Aron war da wesentlich aaliger, er passte sich in Spiel und Gesang den jeweiligen Gegebenheiten an, glänzte mit schneidigen Tönen, war auch perfekt im Piano und wirkte ganz wie der Diplomat vom Dienst.
Die dritte Hauptrolle kommt in dieser Oper naturgemäß den Chören zu – mehr als 100 Kinder, Männer und Frauen wirkten da mit. Neben dem Sächsischen Staatsopernchor das Vocalconsort Berlin sowie Extrachor und Kinderchor der Semperoper. Was in deren Reihen geleistet wurde, war schlicht überwältigend sowohl in der Darstellung als auch im Gesang.
Den musikalischen Teppich für das alles hat die Sächsische Staatskapelle unter der musikalischen Leitung von Alan Gilbert ausgerollt (bis vor kurzem noch Chefdirigent des New York Philharmonic Orchestra und schon bald Chef der NDR Elbphilharmonie) – eine wirklich sinnliche Erfahrung dieser schroffen Partitur, die eine enorme Schönheit und Dramatik beinhaltet.
Sowohl szenisch als auch musikalisch also eine unbedingte Empfehlung für diese Neuproduktion an der Semperoper, zumal es 1975 in Dresden die heute noch als legendär gehandelte DDR-Erstaufführung von „Moses und Aron“ durch Harry Kupfer gegeben hat. Seinerzeit hat es sage und schreibe 39 Aufführungen dieser Oper gegeben, jetzt sind erstmal nur vier Folgeaufführungen von „Moses und Aron“ angesetzt, am 3., 6., 10. sowie am 15. Oktober. Zudem hat das Haus ein sogenanntes „Aktenzeichen“ als Begleitveranstaltung vorbereitet: Am 1. Oktober gibt es im Historischen Archiv der Sächsischen Staatstheater Einblicke in die Kupfer-Inszenierung von 1975. Vielleicht eine geeignete Einstimmung auf die Bieito-Produktion von 2018?