Zwischen Sehnsucht und der Psychologie der Massen hat Regisseurin Nadja Loschky „Die Vögel“, Walter Braunfels’ „lyrisch-phantastisches Spiel“ von 1920, an der Oper Köln angelegt. Eine äußerst gelungene Produktion, findet unser Autor Philipp Lojak:
Schützengräben. Ein mit Kratern übersätes Schlachtfeld, einer Mondlandschaft gleich. Schüsse knallen, Bomben schlagen ein. Leichen. Noch bevor der erste Ton von „Die Vögel“ in der Oper Köln erklingt, werden bildgewaltig die traumatischen Weltkriegs-Erinnerungen des Komponisten Walter Braunfels (1882–1954) wachgerufen. Denn in dieser Oper geht es nicht nur um Sehnsucht, sondern auch um die Psychologie der zum Krieg aufgestachelten Massen. Die Adaption der gleichnamigen Komödie des antiken Dramendichters Aristophanes war 1920 der erste große Erfolg des jüdischen, später zum Katholizismus konvertierten Komponisten. Seine Werke, eine romantische Enklave in der frühen Moderne, führten aufgrund der Repressionen in der NS-Zeit bis zum Ende des Jahrhunderts ein völlig unverdientes Schattendasein. Dass sich die Opernhäuser dieses mannigfaltige Assoziationen eröffnenden Stückes nun immer häufiger annehmen, kann nur als Glück bezeichnet werden. Vor allem, wenn es so gelingt wie in der Kölner Inszenierung.
Die erste Szene offenbart: Der erste Weltkrieg scheint zwei Arten von Männern hervorgebracht zu haben, die nun auf den Trümmern der Welt stehen. Da ist Hoffegut (Burkhard Fritz), ein drolliger Schwärmer, dem die „Mädchen böse mitgespielt“ haben und der sich nach einer Welt jenseits der Zivilisation sehnt. Und da ist Ratefreund (Joshua Bloom), ein kurzangebundener Zyniker und profitorientierter Vernunftmensch, der die „Entartung“ der Kunst nicht mehr erträgt. Beide Figuren sind Kommentare auf Braunfels‘ Zeitgenossen im München der 1920er Jahre. Hier die Wandervogelbewegung, da der Münchener Snob. Der eine wird begleitet von romantisch-schwelgerischen Wogen im Orchester, der andere von einem pragmatisch-klassizistischen Tonfall.
Sie suchen ihr Glück im Reich der Vögel, für Braunfels das Reich der Fantasie. Was sie aber vorfinden, ist ein heruntergewirtschafteter Haufen: Der Kölner Wiedehopf, König der Vögel, läuft auf Krücken, seine Gefolgschaft ist nicht minder lädiert. Auch wenn Vogel des Jahres 2022, die Federn des Wiedehopfs fallen aus. Ratefreund, herrlich inszeniert als seine Pagen tyrannisierender Machtmensch, ergreift seine Chance und verführt das Vogelvolk zu einer wahnwitzigen Idee: Eine Stadt in den Lüften – Wolkenkuckucksheim – zu bauen, um die Herrschaft über die Menschen zu erlangen und die Götter im Himmel auszuhungern. Die Gründe sind so fadenscheinig wie in der Menschenwelt, die Legitimation für eine solches Unterfangen wird mit dem Alter des Vogelgeschlechts begründet.
Um das Ziel zu erreichen, installiert Ratefreund – sein Name gewinnt im Verlauf der Inszenierung immer mehr an Zynismus – ein strenges Regime, das auf die Reproduktion von Vögeln ausgerichtet ist. Vogel-Wärter in schwarzer Uniform und in weißen Kitteln mit Gasmasken überwachen das Geschehen. Anstatt Rassenlehre wird Eierlehre gelehrt. Dass diese Interpretation des Librettos, das Braunfels selbst verfasst hat, nicht wie ein billiger Griff in die Klischee-Kiste wirkt, liegt wohl daran, dass sie sich so schlüssig aus dem Stoff heraus ergibt. In der Inszenierung von Nadja Loschky wirken die NS-Allusionen vollkommen natürlich und nicht aufgezwungen. Das liegt aber auch am gewitzten Charme des Kölner Ratefreund, stimmgewaltig gesungen von Joshua Bloom, dessen Nimbus (um einen Terminus von Gustave Le Bon zu nutzen) auch beim Publikum verfängt. Die wirklich lustigen Slapstick-Einlagen, mitunter ins Groteske gehend, regen zum Lachen an, das jedoch sofort im Halse stecken bleibt, wenn man des abgebildeten gesellschaftlichen Prozesses gewahr wird.
Und Hoffegut? Er sieht mehr oder weniger machtlos zu und träumt sich in eine Naturerfahrung mit der Nachtigall. Sie haucht ihm mit einem Kuss etwas von ihrem geheimen Vogel-Wissen ein, das jenseits des menschlich Fassbaren steht. Dargestellt wird dies nicht als erotische Begegnung zwischen dem alten Schwärmer Hoffegut und einem Vogel, sondern als eine Naturerfahrung im Sinne einer typisch romantischen Naturesoterik. Eben diese wirkt heute fremdartig. Doch eingedenk einer Gesellschaft, in der alles „Bio“ sein muss, in der für einen Forst gestritten und für das Klima gekämpft wird, ist die Sehnsucht nach Natur absolut gegenwärtig. Gesungen wird die Nachtigall von Ana Durlovski mit perfekter Kontrolle in den Koloraturen und herrlich dunkler Stimmfarbe in den Tiefen. Hoffeguts Faszination für dieses Tier wird somit absolut nachvollzieh- und miterlebbar. Er selbst bleibt stimmlich etwas blass, Burkhard Fritz gestaltet die schwelgerischen Tongirlanden zwar sehr fein, schien aber der opulenten Klangkulisse nicht immer gewachsen zu sein.
Indes bekommt die Vogelschar Besuch von Prometheus (Samuel Youn), der als Warner auftritt. Selbst gestraft von Zeus, ruft er die Vögel zur Demut gegenüber den Göttern auf. Aufgestachelt von Ratefreund erklären diese den Göttern den Krieg. Die Antwort kommt prompt: Zeus (der eher wie ein monotheistischer Gott auftritt) schickt ein mahnendes Gewitter und schlüpft in der Kölner Inszenierung aus einem überdimensionierten Ei. Derart beeindruckt lassen die Vögel von ihrem Vorhaben ab und ziehen in neu gewonnener Demut von dannen. Diese Wendung wirkt nach der langen Vorarbeit der Einflüsterung Ratefreunds dann doch etwas flach. Muss nicht auf die größte aller Provokationen, der Belagerung des Himmels, die größte aller Katastrophen folgen? In Braunfels‘ Vorlage wird Wolkenkuckucksheim (im Unterschied zur Version von Aristophanes) zerstört. Wie wir wissen, folgte auf das Dritte Reich dessen Zerstörung. In Köln aber wird dies nicht weiter ausgebreitet, etwas vom visuellen Potenzial verschenkt. Vielleicht liegt es daran, dass man Braunfels dann doch nicht die prophetische Gabe zutraute, die Geschichte so detailliert vorherzusagen, vielleicht wollte man sich nicht im NS-Vergleich verrennen und auf der Ebene des Augenzwinkerns verbleiben, damit das Reich der Vögel eines der Fantasie bleibt und nicht zum Abklatsch der Historie verkommt.
Das Publikum jedenfalls honorierte die Entscheidung der Regisseurin Nadja Loschky mit jubelndem Applaus. Auch dem Gürzenich Orchester Köln gebührt Lob, das die anspruchsvolle Partitur unter der Leitung von Gabriel Feltz mit Sinn für den balancierten Klang spielte, wobei gerade die Hörner ihre Klasse bewiesen. Die liebevoll erzählten kleinen Geschichten und Aktionen „zwischen den Librettozeilen“, die Qualität der Sänger und des Orchesters, die aufgemachten Assoziationsfelder und das wirkungsvolle Bühnenbild machten die Produktion zu einem ebenso kurzweiligen wie denkwürdigen Abend. Er erzählt, wie die Massen verführt werden können – oder wie sich das Individuum in seinen Sehnsüchten verlieren kann. Man kann nur hoffen, dass die Stücke von Walter Braunfels in Zukunft öfter die Ohren der Zuschauer erreichen, denn seine Werke sind im besten Sinne romantisch und beweisen in ihrer Schlüssigkeit und Wirkung einen außergewöhnlichen Sinn für das Musiktheater.