„Double“ war der Titel eines „Musik der Zeit“-Festivals beim Westdeutschen Rundfunk Köln. Anhand von eigens für diesen Anlass geschriebenen Stücken und auch von bereits vorliegenden Werken wurde ein genauer Blick auf neue Komponierästhetiken gerichtet, die sich mit Begriffen wie Wucherung, Vernetzung, Umschreibung, De-und Rekomposition klassifizieren lassen. Über die Veranstaltung haben wir ausführlich in der neuen musikzeitung (Ausgabe 12/2007) berichtet. Der Komponist Peter Eötvös war zwar beim Kölner „Double“ nicht vertreten, hätte aber mit seinen jüngsten Schöpfungen perfekt das komplexe Thema noch um Begriffe wie Neuansatz oder Fortsetzung erweitert. In Lyon, Köln und Frankfurt gab es dazu spannende Eötvös-Begegnungen.
Bei den Donaueschinger Musiktagen 1999 wurde ein halbszenisches Werk von Peter Eötvös uraufgeführt: „As I crossed a bridge of dreams“, auf Tagebuchnotizen einer japanischen Hofdame aus dem frühen elften Jahrhundert basierend, ausgespannt zwischen Traum und Wirklichkeit. Peter Eötvös erfand dazu eine luzid klingende Musik voller Ruhe und Schönheit, suggestiv in ihrer geheimnisvollen Stille. Die englische Schauspielerin Claire Bloom sprach die ins Englische übersetzten Texte, sie dialogisierte mit einer Posaune, die Mike Svoboda spielte, sozusagen als schattenhaftes instrumentales Alter Ego der Hofdame. Auch ein Kontrabass wirkte noch als Spielpartner mit. Alles war auf der Bühne hinter einem transparenten Vorhang angesiedelt, magisch erschienen immer wieder Figuren, wie in einer tiefenpsychologischen Spiegelwelt, ein Sousaphon mit erleuchtetem Schalltrichter fungierte als „Mondgänger“. Eötvös schuf mit dem Werk ein facettenreiches „Klangtheater“ voller magischer Bilder und Klänge, die von einem kleinen Instrumentalensemble ausgingen.
Jetzt ist aus der subtil skizzierten „Überquerung der Traum-Brücke“ eine richtige Oper geworden, wenn auch noch in den Dimensionen einer größeren Kammeroper mit rund vierzig Instrumentalisten im Orchestergraben. Aus dem ursprünglichen Dreiviertelstünder wurde dabei ein Achtzigminutenstück, das zudem den griffigen Titel „Lady Sarashina“ (so hieß die Hofdame) erhielt. Die Lady darf jetzt auch singen – Mireille Delunsch verwandelte das fragile Geschöpf in eine Operndiva, was wohl nicht ganz dem Vorbild entsprechen dürfte. Das instrumentale Theater auf der Szene ist auch verschwunden und damit ein großer ästhetischer Reiz. Stattdessen umgibt ein „Trio Vocal“ in mehrfachen Figurierungen die Hofdame, was von den Sängerinnen Ilse Eerens und Salome Kammer sowie vom Bariton Peter Bording gesanglich und darstellerisch mit bemerkenswerter Präsenz gestaltet wurde. Mit ruhigen Bewegungen und knappen Gesten durchschreiten sie die Szenen, die so poetische Titel wie „Frühling“, „Mond“, „Spiegeltraum“, „Pilgerfahrt“, „Traum mit der Katze“, „Dunkle Nacht“ oder „Erinnerung“ tragen.
Ein japanisches Inszenierungsteam mit Ushio Amagatsu (Regie und Choreographie), Natsuyuki Nakanishi (Bühnenbild) und Masatomo Ota (Kostüme, Masken) suggerierte auf diskrete Manier authentische japanische Theaterästhetik: Die Bühne wird streng in vier Felder unterteilt, eine schlanke Stelenkonstruktion setzt den optischen Akzent, im Hintergrund bewegen sich zwei große leuchtende Kreisringe wie Monde am Himmel. Mit einer Couleur locale à la „Madame Butterfly“ hatte diese Optik nichts gemein Sie korrespondiert vielmehr mit Eötvös' Musik, die sehr sensibel und klanglich hoch differenziert sich in die Szenen zwischen Traum und Realität hineintastet, sanfte Bläserakzente setzt, die Streicher behutsam führt, selbst das reich besetzte Schlagwerk oft eher zurücknimmt. Kein opulentes Schwelgen überspielt die szenische Aktion, eher führt die Musik einen kultivierten Dialog mit der Bühne. Von der kompositorischen Griffigkeit der ersten „Sarashina“-Darstellung ist allerdings in der neuen Oper nicht mehr viel zu spüren, und Peter Eötvös als sein eigener Dirigent unternahm mit dem klangsüchtig spielenden Lyoner Opernorchester auch nichts, um Erinnerungen an die erste Fassung zu wecken. „Lady Sarashina“ ist eine autonome zweite Fassung des Stoffes, die sicher gute Chancen hat, ähnlich wie Eötvös' Tschechow-Oper „Drei Schwestern“ ins normale Opernrepertoire aufgenommen zu werden. Doch sollten ambitionierte Operntheater mit einer Studiobühne auch nicht die „Traumbrücke“ vergessen. Sie besitzt ihre eigene ästhetische Qualität.
Während Peter Eötvös an der Lyoner Oper noch die Vorstellungen seiner „Lady Sarashina“ dirigierte, wurde in der Kölner Philharmonie sein Konzert für zwei Klaviere und Orchester uraufgeführt. Auch dieses Konzert, dem großen Vorbild Béla Bartók gewidmet, besitzt beim Komponisten einen Vorläufer: das „CAP-CO“ – Concerto for Acoustic Piano, Keyboard and Orchestra, das als „Sonata per sei“ für zwei Klaviere, Sampler-Keyboard und drei Schlagzeuge (2006) in einer verkleinerten Fassung direkt auf Bartóks Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug Bezug nimmt. Die „Sonata per sei“ konnte man unmittelbar nach dem Kölner Klavierkonzert in der Alten Oper Frankfurt in einem von Peter Eötvös geleiteten Konzert des Ensemble Modern in einer perfekten, atemberaubend vital-expressiven Darstellung erleben, mit den Pianisten Ueli Wiget und Jürgen Kruse sowie den Schlagzeugern Rainer Römer, Rumi Ogawa und Boris Müller. In diesem Werk ist das Keyboard an den „normalen“ Konzertflügel gleichsam wie ein Beiboot angeschlossen. Dabei entstehen zahlreiche begleitende Töne, sodass sich insgesamt ein breiteres, farbiges Klangspektrum einstellt. Die Anregung zu dieser Parallelschaltung von Klavier und Keyboard erhielt Eötvös wiederum aus Bartóks Partituren, vor allem der Klavierkonzerte, in denen er die oft vorkommenden „parallelen Läufe“ einzelner Instrumente im Orchestersatz konstatierte.
Rückkehr zum traditionellen Instrumentarium
Im „Konzert für zwei Klaviere und Orchester“ kehrt Eötvös wieder zum traditionellen Instrumentarium zurück. Er gewinnt dadurch in der instrumentalen Vielfalt einige klangfarbliche Reize gegenüber der Keyboard-Version, gleichwohl wirkt die Komposition auf eine seltsam-rätselhafte Weise konventioneller: eben wie ein Klavierkonzert aus der guten Tradition. Und das wäre womöglich noch stärker in Erscheinung getreten, wenn nicht das Klavierduo Andreas Grau und Götz Schumacher die fünf Sätze, vier schnelle und den wunderbar entspannten langsamen vierten Satz, ebenso virtuos wie streng gemeißelt gespielt hätten, in perfekter Interaktion mit den Schlagwerkern und Instrumentalisten des WDR-Sinfonieorchesters Köln unter Stefan Asbury.
Theatralisch-plastische Beredtheit
Was aber in beiden Versionen des Konzerts identisch ist: Eötvös’ Fähigkeit, in den komponierten Bewegungen und Gesten, im Zusammenführen klangfarblicher Kontraste, im Wechsel von Anspannung und weit ausschwingender Entspannung wie im vierten Satz, so etwas wie eine theatralisch-plastische Beredtheit zu erzielen: „Meine Musik ist Theatermusik“, sagte der Komponist einmal dazu. Man hört es in jedem Takt.
Auch in dem neuen „Octet“, das im Frankfurter Konzert uraufgeführt wurde. Gesetzt für Flöte, Klarinette, zwei Fagotte, zwei Trompeten und zwei Posaunen, ist es Karlheinz Stockhausen gewidmet, bei dem Eötvös längere Zeit als Pianist und Schlagzeuger in dessen Ensemble gearbeitet hat. Auch für dieses Werk gibt es einen zurückliegenden Ausgangspunkt: Samuel Becketts Hörspiel „Embers“ aus dem Jahr 1959 hat Eötvös schon einmal musikalisch dargestellt in seiner Komposition „Now, Miss!“ für Violine, Synthesizer und Tonband: Ein alter Mann, eine Art ferner Verwandter von Hemingways berühmter Figur, denkt am Meer über sein Leben nach, versucht das Wellengeräusch mit einem halblauten Selbstgespräch zu überlagern. Eötvös’ Komposition nimmt den oft kürzelhaften, gestoßenen Tonfall des Beckett-Textes auf, die acht Blasinstrumente werden dabei höchst beweglich und pointiert eingesetzt: als Klangrede. Es gibt auch schon die Fassung „Octet Plus“, in der eine Sopranstimme Textteile aus Becketts Hörspiel in die Instrumentalstruktur einbringt. In der Partitur von „Octet“ sind diese Sopranpassagen schon, drucktechnisch abgesetzt, auskomponiert. Die nächste Eötvös-Uraufführung wird also nicht lange auf sich warten lassen. Peter Eötvös ist nicht nur einer der fleißigsten und produktivsten Komponisten der Gegenwart, sondern auch einer der spannendsten, weil er mit jedem neuen Werk auf Erkundungsreise geht.