Reiste man Anfang Juli nach Südfrankreich, so war dort die Freude über das Weiterkommen beim Fussball ebenso wie die Überraschung beim zweiten Wahlgang der Parlamentswahlen spürbar. Wer sich schon für die große Aufregung gewappnet und die Schaufenster verbarrikadiert hatte, konnte wieder auf den französischen Normalbetrieb runter- und von der Sorge vor dem rechten Durchmarsch auf die vor einer eher linken Vollbremsung des Präsidenten umschalten.
Ein Grundkurs in Sachen Rameau – Das Musikfestival in Aix-en-Provence beginnt mit einer Premierenserie
Das Festival in Aix-en-Provence passt ganz gut in diese gefühlte Indifferenz. Zunächst wirkt die zelebrierte Tradition beruhigend. Immerhin gibt es hier seit 1948 jedes Jahr hauptsächlich eine geballte Ladung Oper und gar den Ehrgeiz, mit Salzburg mitzuhalten. Zumindest bei den Spitzenpreisen der Karten ist man mit 300 EUR schon dicht dran. Ansonsten geht der seit 2018 waltende Sommerintendant Pierre Audi bei den Stücken und gebuchten Namen vor allem auf Nummer sicher. Als Komponisten der Hauptpremiere verschrecken Gluck, Rameau, Puccini und Debussy nun wirklich nicht. Die dafür zuständigen Regisseure wie Dimitri Tscherniakov, Claus Guth, Andrea Breth und Katie Mitchell haben neben ihrer erwiesenen Meisterschaft zudem schon diverse Erfolge in Aix-en-Provence produziert. Dazu kommen dann noch Barrie Kosky mit einem im wahrsten Wortsinn verrückten Miniaturen-Doppel und William Kentridge für Abstecher verschiedner Art.
„Pelleas et Melisande“
Dass ausgerechnet die acht Jahre nach ihrer Premiere ins Grand Théâtre de Provence zurückkehrende „Pelleas et Melisande“ von Katie Mitchell die Inszenierung des laufenden Jahrgangs ist, die keinerlei Wünsche offen ließ, mit ihrer Frische verblüffte und auch in der aktuellen Besetzung faszinierte, gehört zu den Vorzügen eines Festivals, das schon lange bewusst auf den Synergieeffekt von internationalen Koproduktionen setzt. So werfen eigene Referenzproduktionen auch schon mal einen Schatten auf den laufenden Jahrgang. Was die finnische Dirigentin Susanna Mälkki (die das Pult von ihrem Landsmann Esa Pekka-Salonen übernommen hat) an dramatischer Delikatesse aus dem Orchestre de l’Opéra de Lyon herausholte, wie Julia Bullock die Mélisande, Laurent Naouri den Golaud oder Hut Montague Rendall den Pelléas zu überzeugenden Protagonisten eines atemberaubend spannenden und die Erotik des Stückes freilegenden Thrillers machten, das war schlichtweg faszinierend.
„Madama Butterly“
Ähnlich überzeugend fiel die Rückkehr von Andrea Breth mit Puccinis „Madama Butterly“ im Théâtre de l’Archevêché nicht aus. Breth hatte in Aix-en-Provence schon mit Wolfgang Rihms “Jakob Lenz“ und einer „Salome“ ihren Ruf als präzise, mit psychologischer Ambition glänzende Regisseurin unter Beweis gestellt und entsprechende Erwartungen geweckt. Wie vorher angekündigt, verlässt sie sich aber bei Puccini nahezu völlig auf die Geschichte und erzählt sie im Grunde eins zu eins, ohne sich und ihr Publikum darin zu verhaken. Das Einheitsbühnenbild des Gerüstes eines japanischen Hauses, die Kostüme und die hinzugefügten, hinter Masken verborgenen japanischen Tänzer thematisieren die von Puccini mit emotionalem musikalischem Aufwand ausgestattete fernöstliche Fremdheit, in dem sie sie zeigen, aber nicht wirklich hinterfragen. Diese streng regulierte fremde Welt kollidiert so mit der von Pinkerton verkörperten westlichen Arroganz, dass es Cio-Cio-Sun am Ende das Leben kostet. Immerhin bietet dieses Japanarrangement einen Rahmen, in dem Ermonela Jaho – als intensiv gestaltende Butterfly ohne jeden hochdramatischen Überdruck – ein vokales Porträt dieser Partie auf Festspielniveau abliefern kann, zu dem Daniele Rustioni mit dem Orchester der Oper Lyon den durchaus passenden melancholisch verdunkelten Sound liefert.
„Samson“
Auch unter freiem Himmel im Théâtre de l’Archevêché stellten Claus Guth und Raphaël Pichon ihr Rameau-Projekt „Samson“ vor. Beide waren hier nicht nur als Regisseur und Dirigent am Werke, sondern durchaus selbstbewusst in jeweils doppelter Funktion auch als (Mit-)Autoren. Sie dienen immerhin dem französischen Barock-Komponisten schlechthin und seinem Librettisten Voltaire! Mit ihrem Beitrag korrigierten die beiden mit einer „freien Kreation“ die königliche Zensur des Ancien Régime, die den beiden mit vorrevolutionärer Rechthaberei ihren „Samson“-Opernplan vermasselt hatte. Mit sensiblem Gespür für den biblischen Prototypen des zum Selbstmordattentäter radikalisierten Samson und unter Nutzung der barocküblichen Pasticcio-Technik haben beide aus der biblischen Vorlage einen stringenten Handlungsstrang abgeleitet und dazu passende Musiknummern zusammengefügt. Einmal quer durch den ganzen Rameau und zurück. Dessen Opern „Les Indes galantes“ (1735), „Castor et Pollux“ (1737), „Dardanus“ (1739), „Zoroastre“ (1749 und „Les Boréades“ (1764) lieferten das Material. Bei den Ballettmusiken bedienten sie sich bei „Les Fêtes d’Hébé“ (1739), „Le Temple de la Gloire“ (1745), „Les Fêtes de Ramire“ (1745), „Zaïs“ (1748), „Les Surprises de l’Amour“ (1757) und „Anacréon“ (1754).
Es ist ein Grundkurs in Sachen Rameau und würde glatt als Einstieg in ein Rameau-Festival taugen. Fast 50 Nummern sind als Fünfakter strukturiert. Da Raphaël Pichon seinem Pygmalion Orchester primär das Elegische der Musik genussvoll zelebriert, werden gelegentlichen Ausbrüche zu einem puren Genuss. Zum packenden Musiktheater freilich wird das Ganze erst durch die präzise Regie von Guth und die perfekte Ruinenopulenz der Bühne von Etienne Pluss, die erschreckend genau über die Zeiten in die Gegenwart verweist. Neben Jarrett Ott, der einen vokal solides Samson-Mannsbild glaubwürdig verkörpert, glänzt vor allem Jacquelyn Stucker als auf ihn von seinen Feinden angesetzte Dalia in jeder Hinsicht.
„Iphigénie en Aulide“
Zum Auftakt des Premierenreigens hatte Dimitri Tscherniakov Glucks Iphigenie-Opern als eine Geschichte mit Fortsetzung inszeniert. Erst die „Iphigénie en Aulide“ (1774) an deren Ende die Titelheldin zum Opfer der Kriegsgelüste ihres Vaters Agamemnon wird. Dann „Iphigénie en Tauride“ (1779), in der sie selbst als Priesterin mit dem Opfermesser in Tauris jeden Fremden, der anlandet, zu opfern hat. Sie begehrt erst dagegen auf, als ihr Bruder Orest und sein Freund Pylades zu potenziellen Opern werden.
Für Tscherniakovs Verhältnisse dicht an der Vorlage und eher mit Hang zum Einzelporträt hinter dem Gerüst eines abstrakten, bühnenfüllenden Hauses, wird das Ende des ersten Teiles zum Dreh- und Angelpunkt der Relevanz beider Stücke. Da beobachtet Iphigenie selbst von der Seite wie ihre Sippe, samt Großmaul-Bräutigam Achill, an ihrer Leiche (die hier von der Göttin Diana gedoubelt wird) den nun endlich möglichen Kriegseintritt Agamemnons bejubelt. Mehr Traumatisierung geht nicht. Die reicht so weit, dass sie am Ende des noch düstereren zweiten Teils bleibt wo sie ist. Für eine Rückkehr in ein eigenes Leben ist sie hier nicht mehr zu gebrauchen. Emmanuelle Haim sorgt mit den Musikern des Orchesters Le Concert d’Astrée für einen geschmeidig vorwärtsdrängenden Sound, der den Interpreten genügend Raum zur vokalen Glanzentfaltung in diesem wortreichen Operndrama lässt. Vor allem Corinne Winters als Iphigenie sowie Florian Sempey und Stanislas de Barbeyrac als Orest und Pylades hinterlassen dabei einen bleibenden Eindruck, auch wenn man das von der Regie Tscherniakovs diesmal nicht sagen kann.
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