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LEGENDE, Kirill Serebrennikov. Foto: © Frol Podlesnyi

LEGENDE, Kirill Serebrennikov. Foto: © Frol Podlesnyi

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Ein Welttheater, das viel weiter reicht – Kirill Serebrennikovs „Legende“ in Duisburg

Vorspann / Teaser

Auch die zweite Eröffnungsproduktion der Ruhrtriennale „Legende“ von Kirill Serebrennikov im Landschaftspark Duisburg Nord ist ein Theatercoup. 

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Wenn Kunst (auch) die Übersetzung eines ernsthaften Anliegens in die Poesie des Theaters ist, dann hat Kirill Serebrennikov mit „Legende“ zu Beginn der Ruhrtriennale in der Kraftzentrale des Landschaftsparks Duisburg Nord gerade ein imponierendes Beispiel dafür geliefert, wie das geht. Er hat sich das „FREE ALL POLITICAL PRISONERS“, auf das sein Anliegen auch hinausläuft, für die Übertiteltafeln und den Bühnenhintergrund bis zum Schluss aufgehoben. Schikane, Gefängnis, Lager – all das kommt natürlich auch vor, aber nie als vordergründige Belehrung, sondern ganz selbstverständlich als Teil jener Legenden, die er nacheinander erzählt und mit denen er in dieser großen Hommage an die Person und das künstlerische Werk von Sergey Paradjanov erinnert. Der 1924 im georgischen Tiflis geborene Filmemacher, der 1990 im armenischen Jerewan starb, ist hierzulande nahezu unbekannt, galt als Rebell, wurde im Westen von den Großen der Zunft hoch geschätzt und von den Machthabern im eigenen Land weggesperrt.

Der im Dauerclinch mit der sowjetischen Zensur liegende Künstler wurde 1973 in Kiew verhaftet und im April 1974 wegen Homosexualität, Pornographie und angeblicher „homosexueller Vergewaltigung“ zu fünf Jahren strenger Lagerhaft verurteilt. Dass u.a. Federico Fellini, Roberto Rossellini, Michelangelo Antonioni, Sergio Leone protestierten und sich auch Louis Aragon für ihn einsetzte, belegt den Rang, den Ruf, den er damals trotz aller Abschottungsbemühungen des Regimes im Westen bereits hatte. Es ist eine der wunderbar hintersinnigen Szenen, wenn Falk Rockstroh als Alter Ego des Gefangenen davon erzählt, wie er im Lager einen Brief von Federico Fellini bekam und Wärter wortreich einredete, dass das ein entfernter Verwandter sei …

Einer wie Serebrennikov, der sein Durchstarten als Opern und Theaterregisseur im Westen unbeirrt vom Moskauer Hausarrest aus vorbereitete und sich bestens mit den Schikane- und Drangsalierungsrepertoire eines Regimes auskennt, das Kunst ernst nimmt, in dem es sie fürchtet, muss sich da nicht einfühlen. Nur erinnern. Biografisches kommt auch auf der Bühne in dem Stück vor, das Serebrennikov geschrieben, inszeniert und ausgestattet hat zur Sprache. Aber es ist immer eingebettet in ein Welttheater, das viel weiter reicht. Und das sich souverän, opulent und vital auf die eigenen Stärken besinnt und die ausspielt und nicht zertrümmert. Auch wenn er keine im klassischen Sinne durcherzählte Lebensgeschichte bietet, so sind es doch Geschichten aus dem Leben eines Menschen, die weit übers Einzelne hinaus und weit in die Geschichte der Weltkunst hineinreichen.

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LEGENDE, Kirill Serebrennikov © Katrin Ribbe, Ruhrtriennale 2024

LEGENDE, Kirill Serebrennikov © Katrin Ribbe, Ruhrtriennale 2024

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Die Bühne hat zunächst etwas Zusammengezimmertes, ist variabel mit schräger Spielfläche, und sie ist flexibel. Die Kostüme werden häufig gewechselt, changieren zwischen Alltagskluft und Folklorepracht. Der Georgische Männerchor (Georgian State Chambers Chor bzw. Trinity Cathedral Chor, wie in Klammern ergänzt wird) kommt in Konzertkleidung, marschiert mal von oben an den Seiten der Zuschauertribüne herunter, mal von hinten auf die Bühne und vermittelt dem viel zitierten Wort von der Industriekathedrale einen Beigeschmack von Wahrheit. 

Serebrennikov, der einer der interessantesten und angesagtesten Opernregisseure (u. a. zwei DaPonte Opern in der Komischen Oper in Berlin, „Lohengrin“ in der Pariser Bastille-Oper, „Parsifal“ an der Wiener Staatsoper, wo er auch die nächste Saison mit „Don Carlos“ eröffnen wird) hat seinem Stück einen musikalischen Boden eingezogen und eine Crew von eigenen Leuten (Kirill & Friends Compangny) und vom koproduzierenden Thalia Theater Hamburg beisammen, die durchweg nicht nur mit ihrem Körpereinsatz, sondern auch mit ihren Fähigkeiten zu singen verblüffen.

Allein was die fabelhafte Karin Neuhäuser hier bietet, ist eine Show für sich. Wenn sie sich als alte Schauspielerin am Stock auf die Bühne schleppt und gebückt vor sich hingrummelt, dass sie eine lebende Legende, eine Diva ist, dann parodiert sie auf hinreißende Weise das Theaterklischee, verkündet aber ansonsten nichts als die Wahrheit!

Wenn sie dann im Kapitel bzw. der Legende, die Shakespeares „Lear“ als Geschichte eines Tyrannen umdeutet, im langen Schwarzen ans Mikrophon tritt und unerwartet bezaubernd zurückhaltend das Brahmslied „Guten Abend, Gute Nacht“ singt und das dann zu einem veritablen Sturm auf der Heide eskalieren lässt, der Falk Rockstroh als Lear hinwegfegt, gehört das zu den Theaterglücksmomenten, die man sich heutzutage am besten in der Erinnerung einrahmt!

Auch der Baum der Wünsche gehört dazu. Wenn Campbell Caspary mit seinem verführerischen Engelslächeln unter blondem Haarschopf mit der Gitarre in den Händen Leonard Cohens „Halleluja“ intoniert und die anderen wie eine gierige Horde Ernst machen mit ihren kleinkarierten Wünschen, die man diesem Baum mit einem Bändchen anvertrauen kann, dann eskaliert diese Gier nach Reichtum, Macht und kleinlichen Vorteil so sehr, dass der Sänger irgendwann nicht nur selbst ganz nackt da steht, sondern am Ende nur als Gerippe den Baum ziert.

In den vier Bruttostunden werden zehn Legenden bzw. Kapitel erzählt. Von den wachen, alle Sprachen sprechenden Toten auf dem Friedhof. Von dem Händler, der nie aufgibt, seine Ware an den Mann zu bringen, um damit sein Leben zu verlängern. Von der Maler-Elite der Vergangenheit, die sich im Kiewer Museum versammelt (Dürer, Goya, Velasquez – diese Preislage), nächtens Parkett poliert und vorm Luftalarm in Deckung geht. Vom Händler, der mit allen seinen Angeboten bei einem hartnäckigen Verweigerer scheitert, bis er ihm Ruhm verkaufen will. Es gibt Ausflüge in Massenets „Werther“ mit vielen Varianten vom Selbstmord. Eine „Lear“-Adaption und auch Tosca ist mit von der Partie. Aber es gibt auch die Legende vom eingemauerten Wettkampf-Sieger und Ausflüge ins Straflager. Jede Legende wird von einem andere Darsteller als seine Geschichte moderiert. Es ist immer eine eigene Melange aus Schauspiel, Gesang (von Choral über Volksmusik bis Musical) und Performance.

Dafür ist ein regelrechtes Verführerkollektiv am Werk, das Raum zum Nachdenken lässt, dann wieder auch mit rein körperlicher Präsenz in den Bann zieht.

Die Biographie von Paradjanov liest man dennoch besser zusätzlich nach. Am besten die von Serebrennikov bei der Gelegenheit gleich mit. Von dem, was Paradjanov geschaffen hat kann man sich bei YouTube ein Bild machen. Bei Serebrennikov ist man da seit seiner Übersiedlung in den Westen besser dran. In seinem Fall kann man nachprüfen, was er macht. In Hamburg, in Berlin, in Wien. Und jetzt gerade in Duisburg.

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