Das Festival UltraSchall, eine gemeinsame Veranstaltung von kulturradio rbb und Deutschlandradio Kultur, fand zum achten Mal in Berlin statt. Sein Name erhielt in diesem Jahr eine zusätzliche Bedeutung, verweist er doch auch auf Krach hinter den Kulissen. Die bisher so fruchtbare Zusammenarbeit der verantwortlichen Redakteure Rainer Pöllmann und Martin Demmler endete jäh im August 2005, als das kulturradio seinen Redakteur Demmler in der bekannten Goebbelszitat-Affäre fristlos entließ. Obwohl das Berliner Arbeitsgericht kurz vor Festivalbeginn die Kündigung für unwirksam erklärte, verlor Demmler mit seiner Stelle auch die Mitverantwortung für UltraSchall. Ein zentrales Ereignis des Festivals war die Uraufführung von Pascal Dusapins „Faust“-Oper in der Deutschen Staatsoper.
Französische Komponisten haben die Faust-Figur schon mehrfach erfolgreich musikalisch verarbeitet, man denke nur an Berlioz und Gounod. Das einst durch Gérard de Nervals Goethe-Übersetzung ausgelöste französische Faust-Fieber ist heute verloschen. Dennoch besitzt dieser wissensdurstige Forscher für den 1955 geborenen Pascal Dusapin weiterhin Attraktivität. In seinen insgesamt fünf Bühnenwerken fühlte er sich oft zu berühmten Stoffen hingezogen, zu Shakespeares „Romeo und Julia“ oder dem antiken Medea-Mythos. Goethes Faust hingegen ist für ihn eine zwiespältige Gestalt, die er lieber demontiert.
In seiner Faust-Version hielt sich Dusapin deshalb an den Shakespeare-Zeitgenossen Christopher Marlowe und dessen „Tragical History of Doctor Faustus“. Zusätzlich verwendete der Komponist in seinem selbstverfassten Libretto Elemente aus vielen anderen Quellen, so den altersweisen Säufer Sly aus Shakespeares „Der Widerspenstigen Zähmung“, dazu Ideen von Dante, William Blake, Hölderlin, Gertrude Stein, Herman Melville, Ingmar Bergman und nicht zuletzt Samuel Beckett. Den Kern dieser bildungsbeflissenen Montage bildet jedoch Marlowe, weshalb die Oper in englischer Sprache gegeben wurde, glücklicherweise mit Einblendung der deutschen Übersetzung, denn trotz Sprechgesang verstand man nur wenig.
Anders als bei Goethe findet keine Entwicklung mehr statt. Die letzte Nacht vor dem Tod ist nur noch ein Countdown. Die Hauptfigur fragt zwar weiterhin nach der Erde, nach dem Mond und dem Sinn der Welt, erhält von Mephisto aber keine Antworten mehr. Für Dusapin ist Faustus ein Größenwahnsinniger, vielleicht ein Diktator, in jedem Fall ein „Höhepunkt alles menschlich Bösen“. Er wird damit zum traurigen Bruder seines sympathischer dargestellten Gegenspielers Mephisto. Es ist ein absurdes Paar, zwischen dem es allenfalls Geplänkel, aber keine Konflikte mehr gibt. Die wirklich bedrängenden Fragen, wie sie etwa Hanns Eisler in seiner Faustus-Oper stellte (nicht 1962, wie im Programmheft angegeben), fehlen. Das Programmbuch zeigt allerdings andere „absurde Paare“: Franz Joseph Strauß und Helmut Kohl, Asterix und Obelix, Dick und Doof, George Bush und den saudi-arabischen König Fahd. Die Gegensätze zwischen Gut und Böse lösen sich auf. Wirkliche Konflikte finden nicht mehr statt, zumal Faustus machtlos ist. Sein erster Satz lautet „I cannot“. Der Anfang trägt somit das Ende schon in sich. Wie bei Marlowe ist auch bei Dusapin die Hölle aus dem Jenseits ins Diesseits verlegt. Der eigentlich Böse ist deshalb nicht Mephisto, sondern der zum Schluss auftretende Togod (zusammengesetzt aus „To God“ und “Godot”), der Repräsentant der irdischen Hölle, eine skrupellose und sogar von Mephisto gefürchtete Figur. Togod hat das letzte Wort, mit einem Zitat aus dem Bergman-Film „Persona“: „There is nothing“.
Trotz seines Studiums bei Olivier Messiaen versteht der Komponist Iannis Xenakis als seinen musikalischen Vater. Wie dieser aus Architektur und Mathematik Anregungen erhielt, so lässt sich Dusapin von Literatur, Philosophie und Geschichte inspirieren. Der Faust-Stoff mit seinen vielen Facetten scheint ihn sogar mehr beschäftigt zu haben als die Musik, über die er im Programmheft kein Wort verliert. Sie verwendet ein großes Orchester, ergänzt um drei Blechbläser auf der Bühne und ein Tonband, und wechselt zwischen bewegten Gesten, die häufig aus der großen Perkussionsgruppe kommen, und erstaunlich konsonanten, überwiegend statischen Klangflächen (zumeist der Streicher). Mit Ausnahme des wiederkehrenden Tritonus-Intervalls als Diabolus in musica wird der tiefere Sinn der unterschiedlichen Ebenen nicht genügend deutlich. Auch von der explosiven Vitalität eines Xenakis war wenig zu spüren.
Bei der Pariser Uraufführung seiner Oper „Perelà – Uomo di Fumo“ hatte der Komponist mit Peter Mussbach zusammengearbeitet. Wohl deshalb hat er sein neuestes Werk in Kooperation mit der Opéra National de Lyon der Berliner Staatsoper Unter den Linden anvertraut. Mussbach orientierte sich in seiner Inszenierung am Textbuch. Faustus und Mephisto zeigte er als Zwillingsbrüder oder Doppelgänger, Faustus (Georg Nigl) als größenwahnsinnige Trauergestalt und Mephisto (Hanno Müller-Brachmann) als gutgelaunten Spaßmacher. In ihren schwarzen Anzügen und den weißen Glatzen waren sie äußerlich kaum zu unterscheiden. Eine Jammergestalt war trotz seines charmanten Auftretens und trotz anspruchsvoller Koloraturen auch der Engel (Caroline Stein), der seine Flügel verlor und sich zum Schluss selbst in eine Einkaufstüte einbettete. Togod (Jaco Huijpen, ein Bassbariton wie Faust und Mephisto) triumphierte und mit ihm das absurde, häufig groteske Spiel. So erschien Mephisto zum Schluss in Gestalt eines Kaninchens und löste damit Heiterkeit aus. Bei der mitternächtlichen Todeserwartung zerplatzte ein weißer Luftballon, Sinnbild für die Seele des Titelhelden oder auch für die ganze Welt, nachdem der fette Sly (mit tenoralem Schmelz Robert Wörle) damit gespielt hatte. Dazu hörte man das Geräusch eines Küchengeräts, eines Elektro-Mixers.
Das skandinavische Bühnenbildnerduo Elmgreen & Dragset hatte eine riesige Uhr entworfen, die über neunzig Minuten die Bühne beherrschte. Fausts Zeit war allerdings eine andere, denn seine lange Nacht begann bereits um 14.40 Uhr und verlief dann keineswegs linear. Mal bewegten die Zeiger sich rasch vorwärts, dann blieben sie stehen oder gingen sogar rückwärts. Die Zeit, das merkte man sofort, war aus den Fugen geraten. Auch das Zifferblatt geriet in gefährliche Schräglage. An ihren Zeigern turnten die Protagonisten hin und her, bis sie schließlich die ganze Uhr demontierten.
Dieses absurde, manchmal allzu geschäftige Spiel war insgesamt einsichtig – wenn nicht da noch die Musik wäre und die Aufteilung der Oper in elf Nummern. Leider gab es zwischen der Bühne (dazu gehörte auch Sven Hogrefes Lichtgestaltung) und Dusapins Partitur kaum spürbare Korrespondenzen. Die Inszenierung griff die Impulse der Musik zu wenig auf. Von der im Programmheft erwähnten Funktion des Orchesters als kommentierender Tragödienchor war nichts zu merken. Die Differenzierungen der Partitur verschwanden hinter der einheitlichen Uhrenmetapher. Vielleicht wirkten deshalb die Klänge aus dem Orchestergraben so wenig nach.
Die Sänger überzeugten, an ihrer Spitze der sonore Georg Nigl und der stimmlich bewegliche Hanno Müller-Brachmann, ebenso die von Michael Boder geleitete Staatskapelle. Trotz dieser guten Leistung blieb das Ganze merkwürdig unbefriedigend. Eine bedrängende Wirkung stellte sich nur selten ein, hingegen manchmal sogar Langeweile. Erst der absurde, stille Schluss beeindruckte dann stärker, so dass der Abend mit einhelligem Beifall endete.