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Inmitten der Braunschweiger Altstadt steht das moderne Amphitheater. Außen prangt in großen Lettern: TOSCA

Puccini beim Burgplatz Open Air 2023

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Eine Diva zum Dessert: „Tosca“ beim Braunschweiger Burgplatz Open Air

Vorspann / Teaser

Alles endet in verbrannter Erde, sogar die Liebe zwischen der Diva Floria Tosca und dem Maler Mario Cavaradossi. Giacomo Puccinis Reißer von 1900 nach dem Sensationsstück von Victorien Sardou ist beim Burgplatz Open Air Braunschweig ein Sommerhit mit musikalischen Wonne- , meteorologischen Kälte- und feministisch-neokatholischen Moralschauern. Circa 1300 Sitzplätze haben die kreisrunden Stufenreihen um die manegenartige Bühne am Löwendenkmal. Die Akustik ist dank der flächenhaften Elektroverstärkung weit über dem Durchschnitt mitteleuropäischer Musiktheater-Open-Airs. Hauptsponsor BS Energy zeigt in einer Ausstellungschronik der Geschäftsstelle, was ihm das mit dem Staatstheater Braunschweig veranstaltete Event wert ist – nämlich sehr viel. Beste Voraussetzungen für große Outdoor-Oper bis zum 13. September.

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Das Wort vom fein gewebten Klangteppich trifft es hier zu 100 Prozent. GMD Srba Dinić ließ sich mit dem Staatsorchester Braunschweig unter dem grauen Plastikdach auf eine rundum schwelgerische, satte und im besten Sinne opulente „Tosca“ ein. Aber Dinić betreibt auch massive Gegenwehr als Repräsentant der sanfteren Generation ‚Neuer Mann‘ – also jener Spezies, die ihre Jugend in den 1980ern auslebte. Denn der Serbe prallte dank Vermittlung durch Operndirektorin Isabel Ostermann auf die Wiener Regisseurin Anna Bernreitner. Aussagekräftig schon das Bühnenbild von Eva-Maria van Acker. Über dunkle Erde – schließlich werden wir alle zu Staub – führen Stege, offenbar bemalt vom Künstler Mario Cavaradossi: Rokoko-artige Engeln, Heilige und Heiligenscheine vor hellblauem Himmel zieren die Planken. Diese ersetzen die römischen Originalschauplätze Sant’Andrea della Valle, Palazzo Farnese und Engelsburg. Ein langer Holztisch bleibt ohne das in „Tosca“ oft zu sehende und meist etwas dümmliche Kaminfeuer im August (!) des auch politisch ziemlich heißen Jahres 1800.

Gut so. Interessant wird es bei Anna Bernreitners politisch korrekten Optimierungen: Wahrscheinlich war es Zufall oder Sehfehler aus der siebten Reihe, dass eine Ministrantin mit blonden Zöpfen dem dunklen Mesner (gegen die Tradition sehr schön gesungen von Zachariah N. Kariithi) versehentlch aufs Gesäß klopfte. Aufregend geriet die Aufwertung der Gräfin Attavanti. Auf diese richten sich Toscas Eifersuchtspfeile, obwohl die blonde Gräfin in der Regel nicht auftritt. Hier stiehlt Julia Meyer ihrem eindrucksvollen Bühnenbruder Rainer Mesecke (als Revolutionär Angelotti) fast die Schau und bricht als Allerheiligste Jungfrau inmitten von Chor-, Extrachor- und Kinderchor-Scharen im Te Deum zusammen. Kein Wunder bei Augenblitzen wie denen des toxischen Paradefieslings und Polizeichefs Scarpia mit seinem mafiösen sonnenbebrillten Komplizen-Duo Sciarrone & Spoleta (Matthew Peña und Sebastian Matschoß).

Bernreitner langt bei Puccinis sattem Musikdrama passioniert zu. Sie gehört zur Generation 2.5 der Regieführenden, für die Männer in Opernhandlungen – wenn es passt – das Allerletzte sind. Vor 40 Jahren hatten die angesagten männlichen Regisseure ihre Geschlechtsgenossen selbst enttarnt und Partei für Frauen ergriffen. Beinreitner dagegen beschert auf binärer Schlagseite dem als Polizeichef äußerst charismatischen Jisang Ryu eine Sonderaufgabe. Der darf eine ihm zugeführte Gespielin mit Rotwein übergießen, sie wegen knapper Musik wenige Sekunden sexuell malträtieren und dann hinauswuchten. Bis Tosca zum Dinner kommt, ist der Hauptgang also schon abgeräumt. Die Diva soll’s für den Fiesling zum Dessert geben, garniert mit Rosen-Epaulletten. Kostüme wie das rosa Sakko Cavaradossis und Toscas Toskana-Folklore kommen von Christine Hielscher. Bei Scarpia, den Puccini mit perfide lockende Musikfarben charakterisierte, agiert Bernreitner auf ebenbürtig niederträchtigem Niveau wie Regisseure, die Kinder-Küche-Kirche-Miezen mit feuchten Lippen denunzierten.

Später wird’s bei Bernreitner sehr katholisch und fast werktreu. Toscas und Cavaradossis Fortissimo-Unisono heißt bei Puccini ja auch „Inno latino“ (lateinischer Hymnus). Blut sickert vor Cavarodossis Hinrichtung aus den weißen Textilien des Liebespaars. Auf dem im schwarzen Staub steckenden Holzkreuz ließ sich nicht erkennen, ob „Scarpia“ oder „Cavaradossi“ draufsteht. Das wirkt fast wie Margherita Wallmanns 60 Jahre alte „Tosca“-Inszenierung an der Wiener Staatsoper. Allerdings vergeht sich einer aus Scarpias Schergen-Duo fast an Tosca. Diese setzt – statt Todessprungs von der Engelsburg – den Revolverlauf an ihre Schläfe. Ins Black Out ballert ein Schuss.

Drei Besetzungen der Hauptpartien gibt es für den Burgplatz bis 13. September. Alle machen gute Figur – sogar der fiese Scarpia, den Jisang Ryu ziemlich hell und mit virilem Glanz ganz anders meint als die dämonisierende, aber nicht exorzierende Regisseurin. Ryu hat Konkurrenzpotenzial zum erst makellosen und später leicht vom nächtlichen Kälteeinbruch übermannten Cavaradossi von Angelos Samartzis. Die Entwicklung vom Frauenbetörer zum Politrebell nimmt man Samartzis gern ab, auch stimmlich. Möglicherweise hatte Anna Bernreitner Tosca von ihrer Besetzung Karine Babajanyan bereits in Wien gehört und schon da gründliche Gegenmaßnahmen beschlossen. So unterschiedlich sind die Auslegungen von Primadonna und Regie aber gar nicht. Karine Babajanyan setzt überall und besonders in der Folterszene leuchtend schlanke Vokalraketen. Eine ideale, wissende Puccini-Heroine ist sie und missversteht Toscas Eifersucht deshalb nicht als Dummchen-Dramolett. Gesanglich souverän und mit schwerlich zu überbietender Partie-Erfahrung ist Karine Babajanyan das große Herz des Abends bis zum letzten Kick: Toscas Notmord am Polizeichef erfolgt nicht mit Obst- oder Steakmesser, sondern mit Porzellanscherbe. Beifallsstürme.

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