Auch das 29. Rheingau-Musik-Festival war ein Erfolg – wirtschaftlich gesehen. Nicht ohne Stolz durfte Intendant Michael Herrmann nach 152 Konzerten eine hervorragende Auslastung von 91 % und in der Finanzierung einen stolzen Eigenanteil von 99,69 % durch Eintrittsgelder und Sponsoren verbuchen. Schwerer zu fassen ist der künstlerische Ertrag.
Blättert man durchs Programm, so setzt es eher auf Genuss denn auf Herausforderung. Im Einzelfall zeigt sich aber dann doch, dass der Genuss zur Herausforderung wächst – oder die Herausforderung sich als Genuss entpuppt. So auch bei der Geigerin Isabelle Faust, der diesjährigen Artist-in-Residence. In Sachen „Neue Musik“ rettet sie sogar die Ehre des Festivals.
25 Jahre lang, bis 2014, war das Komponistenporträt fester offizieller Bestandteil des Rheingau-Musik-Festivals, und 2015 war immerhin noch die Komponistin Lera Auerbach Residenz-Künstlerin. Nun klaffte an dieser Stelle eine Lücke. Dazu befragt, gibt Intendant Herrmann an, die Veranstaltung sei immer hoch defizitär gewesen und ihm fehle derzeit der Sponsor, aber er suche fürs nächste Jahr nach einer Lösung. Man fragt sich, ob da nicht eine gescheite Form der Mischkalkulation die nötigen Mittel freisetzen könnte? Oder setzen Sponsoren heute nur noch auf einzelne große Namen und isolierte Events?
Isabelle Faust jedenfalls setzt mit ihrem großen Namen programmatische Zeichen: Ein Abend mit Bachs anspruchsvollen Solopartiten und -sonaten für Violine, einer mit Robert Schumanns selten gespielten Klaviertrios, dazu Johannes Brahms‘ Violinkonzert in Verbindung mit seiner 3. Sinfonie – und die „Kafka-Fragmente“ aus dem Jahr 1987 von György Kurtag für Sopran und Violine. Selbst beim eher geläufigen Brahms-Programm im Wiesbadener Kurhaus mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen unter Parvo Järvi spielte sie im ersten Satz die Kadenz von Ferruccio Busoni, in der die Entfaltung der Solistin immer wieder von einem dumpfen Grollen der Pauke kontrastiert wird. Und überhaupt gilt auch hier für ihr Spiel, was ein Journalisten-Kollege kürzlich so treffend über ihren Vortrag des Beethoven-Konzertes schrieb: Sie „liefert sich dem Zweifel aus“ und markiert nicht die strahlende Virtuosin, sondern sucht mit dem Dirigenten und dem Orchester nach den zahlreichen Zwischentönen in diesem doch sehr sinfonisch angelegten Brahms-Konzert. Die ungewöhnliche Zugabe sagt sie klar an: Es ist „Doloroso“ aus dem Zyklus „Signs, Games and Messages“ des ungarischen Komponisten György Kurtág (Jg. 1926).
Kurtág – Kafka
„Zeichen, Spiele und Botschaften“ - diese zwischen verschiedenen Bedeutungsebenen oszillierende Begriffskonstellation könnte man als Untertitel auch Kurtágs „Kafka-Fragmenten“ mitgeben, die ihre Uraufführung 1987 bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik erlebten und inzwischen schon als Klassiker der Neuen Musik gelten, aber dank ihres exorbitant schweren Parts für beide Beteiligten nicht eben oft zu hören sind. Erst in letzter Zeit – vielleicht wirklich einmal hervorgerufen durch die runde Zahl von Kurtágs 90. Geburtstag im Februar – finden sie etwas häufiger auf die Programme. Im idyllischen Ambiente des Rheingaus – hoch oben auf Schloss Johannisberg im Fürst-von-Metternich-Saal – bedeuten sie allemal eine Herausforderung. Fausts Partnerin dabei ist die finnische Sopranistin Anu Komsi, die als junge Studentin schon im Uraufführungsjahr-Gelegenheit hatte, mit dem detailversessenen Komponisten an diesem Zyklus zu arbeiten. Letzteres verrät sie beim anschließenden Interpreten-Gespräch mit Festival-Dramaturg Markus Treier.
„Fragmente“ sind die Lieder von Kurtágs Zyklus in mehrfacher Hinsicht. Zum einen vertont der Komponist tatsächlich Bruchstücke aus Tagebüchern, Notizen und Briefen Franz Kafkas, die aus einem Absatz, einem Satz oder sogar nur einem einzigen Wort bestehen, dazu noch eine kurze Szenenbeschreibung von Elias Canetti („In der Elektrischen“). Zum andern beschränkt er sich auf 40 musikalische Miniaturen unterschiedlichsten Charakters, die dem Prinzip der Konzentration auf das Wesentliche folgen und – nach dem berühmten Schönberg-Zitat über Anton Weberns Streichquartette op. 9 – „einen Roman durch eine einzige Geste, ein Glück durch ein einziges Aufatmen auszudrücken“ suchen. Dahinter steckt freilich auch die frühromantische Tradition der „progressiven Universalpoesie“, die in einer endlosen Reihe von Spiegeln ein Gesamtbild der Welt schaffen will. Und so scheint in den verschiedenen Facetten des Zyklus nicht nur der Dichter Kafka auf, sondern auch das durch ihn vermittelte Lebensgefühl des Ausgesetztseins – daneben aber auch der Fundus zeitgenössischen Komponierens zwischen bewusst angewandter Reihentechnik und gezielt gesetzten Dreiklängen, zwischen „sauberem“ Intonieren und gezielter Verwischung durch Vierteltöne, Glissandi oder Verstimmen der Geige – weswegen auch ein zweites Instrument in Normalstimmung zur Hand sein muss.
Das von ihm zusammengestellte Kompendium von Beobachtungen, Geistesblitzen, Aphorismen und Assoziationen hat Kurtág in einer Weise vertont, die eine andere Kurtág-Interpretin, die Geigerin Patricia Kopatchinskaja, nicht von ungefähr an die barocke Affekten-Lehre erinnert. Text und Musik sind deutlich aufeinander bezogen, allerdings nicht plakativ und klischeehaft, sondern durch ein neugierig-widersprüchliches Verhältnis. Mal kommentiert die Geige den Gesang, mal die Sängerin den Instrumentalpart, und manchmal schreiten beide gemeinsam ins Ungewisse voran. Und anders als bei viel anderer Neuer Musik sind bei Kurtág auch Humor und Ironie mit im Spiel.
Faust – Komsi
Selbstironie, und damit die Fähigkeit, die Welt und die Dinge aus der Außenperspektive zu sehen, spiegelt besonders das Fragment „Penetrant jüdisch“ (Nr. 10 im 3. Teil): „Im Kampf zwischen dir und der Welt sekundiere der Welt.“ – „Ein wenig quälend“, „sich wichtigmachend“ lauten die Vortragsanweisungen für die Singstimme in „Wenn er mich immer frägt“ (Nr. 7 im 1. Teil). „Ruhelos“ (Nr. 4 im 1. Teil) enthält sogar eine Szenenanweisung: „Die Sängerin folgt den Akrobatien und dem Wüten des Geigers mit wachsender Spannung, Erregung, sogar Angst, bis ihr am Ende wirklich die Stimme versagt.“
Im etwa zur Hälfte besetzten Fürst-von-Metternich-Saal gelingt es Faust und Komsi ausgezeichnet, das Publikum durch intensives und ausdrucksvolles Spiel zu fesseln; die große Mehrheit der Hörer bleibt auch zum Nachgespräch. Mit beeindruckender Souveränität sind die beiden Interpretinnen immer wieder „auf dem Punkt“, der sich in jedem der Fragmente anders darstellt und jedes Mal wieder ein Höchstmaß an Konzentration verlangt. Das ist eine Herausforderung für den Hörer, aber auch ein Genuss. Denn in über 75 Minuten hinweg tut sich gewissermaßen eine ganze Welt auf. Auffällig ist dabei einer Art Arbeitsteilung auf dem Podium: Die Sopranistin agiert, „spielt“ – nicht im Übermaß, aber doch so, dass sie das Publikum anspricht. Die Geigerin vertieft sich in die Noten und deren exorbitante technische Anforderungen, sie „arbeitet“. Das ist sicher in der Komposition so angelegt, dennoch fragt man sich, ob szenisch ein wenig mehr Kommunikation zwischen beiden Seiten sichtbar werden sollte.
Nachgespräch
„Sie hätten viel mehr machen können“, wird nachher beim Interpretengespräch der Musikwissenschaftler Martin Zenck, ausgewiesener Kenner der Neuen Musik, freundlich einwerfen. Anu Komsi wehrt sich gegen eine Intensivierung des szenischen Moments; heutzutage müsse alles Entertainment sein, „als ob die Musik nicht genug ist“. Isabelle Faust glaubt nicht, die Intensität lasse sich dadurch erhöhen, eher werde von der Musik abgelenkt. An diesem Abend bleibt die Frage der Kommunikation auf dem Podium offen, doch wenige Tage später stellt sie sich noch einmal in verschärfter Form. Da spielt die Geigerin mit dem Cellisten Jean-Guihen Queyras und dem Pianisten Alexander Melnikov am selben Ort die drei Klaviertrios von Robert Schumann. Obwohl die drei Instrumentalisten ein eingespieltes Team sind, erwecken sie den Eindruck, zu dritt vor sich hinzuspielen: Völlig versunken in den Notentext die Geigerin, spontan sich aussingend der Cellist, und vereinsamt im Hintergrund der Pianist. Spätestens als im g-moll- Trio die markante Pizzicato-Passage des Kopfsatzes bei allen dreien völlig unterschiedlich klingt, möchte man ein musikalisches Defizit konstatieren. Und dass es bis zum Ende des Finalsatzes braucht, bis die Interpreten zu gemeinsamer Artikulation und Phrasierung des Hauptthemas gelangen, verwundert dann doch einigermaßen.
Im Gespräch auf dem Podium wirkt Isabelle Faust dagegen locker, unbefangen und witzig. Ein wenig mehr von dieser Ausstrahlung würde man sich bei ihrem Spiel schon wünschen. („Die Kunst kann nicht ohne Fantasie und Übertreibung existieren,“ sagt Fausts Kollegin Kopatchinskaja.) Und ein zweiter Wunsch bleibt nach dem anregenden Interpretengespräch noch offen. Wie sagte Anu Komsi so schön, nachdem sie beiläufig Kurtágs Anspielungen auf Bachs Doppelkonzert, auf Verdis „La Traviata“ und Puccinis „La Bohème“ erwähnt hatte? „Sie haben es bestimmt erkannt!“ – Die ehrliche Antwort hätte gelautet: „Nein, pardon, das haben wir nicht! Aber es wäre schön gewesen, es zu erkennen. Können Sie das uns noch einmal zeigen?“ Das Faszinierende an Musik ist meist immer noch die Musik selbst.