Kuriose Skulpturen, surrealistische Bilder, eigenartige Titelblätter von Noten – solche Gegenstände aus der Londoner Wohnung Alfred Brendels waren für zehn Tage in Berlin zu sehen. Sie gehörten zu einer Ausstellung, welche die Brendel-Hommage des Konzerthauses ergänzte und zeigte, welches Geistes Kind der heute 86jährige Pianist ist. Brendel liebt die Überraschung, das Absurde, er hat Sinn für Widersprüche und hintergründigen Humor. Auf Monitoren sieht man Interviews, die in seiner Wohnung aufgenommen wurden. Dort erklärt Brendel, warum er in seiner Jugend zeichnete und komponierte: Interpreten sollten die Perspektive der schöpferischen Künstler kennen.
Treffend nannte Pierre Boulez die Spontaneität, zu welcher Brendel nach der gedanklichen Durchdringung der Werke fand, eine Naivität höheren Grades. Diese Bemerkung steht in einer Festschrift, in welcher sich Freunde und Weggefährten über Alfred Brendel äußern. So schreibt Simon Rattle, dieser Pianist habe ihn als Teenager in Liverpool bis ins Herz getroffen, als er Mozarts KV 482 „wie eine gesprochene Sprache“ interpretierte.
Nach einem Hörsturz hatte sich Alfred Brendel 2008 vom Konzertpodium verabschiedet. Sebastian Nordmann, der Intendant des Berliner Konzerthauses, erlebte ihn bei einem seiner letzten Konzerte, einem Schubert-Abend in Neubrandenburg, der für ihn eine Sternstunde bedeutete. Langfristig bereitete er daraufhin eine Brendel-Hommage mit Ausstellung, Festschrift und Konzerten vor. Der Pianist nahm an dieser zwar nicht mehr als Interpret, jedoch als spiritus rector, Rezitator und regelmäßiger Besucher teil.
Ein besonderes Erlebnis war ein Late-Night-Konzert, bei dem er aus seinem Gedichtband „Spiegelbild und schwarzer Spuk“ las, unterbrochen durch kurze Klavierstücke von Ligeti und Kurtág, welche Pierre-Laurent Aimard interpretierte. So folgte auf Kurtágs „Leises Gespräch mit dem Teufel“ das Gedicht „Menschen spielen“, das Engel und Teufel nebeneinanderstellt. Mit dem Teufel ist Brendel, entsprechend der ursprünglichen Bedeutung seines Familiennamens, schon lange per Du. Aber auch die Zeile „liebevoll kritisch im Dienste der Kunst“ aus dem Gedicht „Einer Schauspielerin“ passt auf ihn. Während Brendel den Lesetisch nie verließ, betätigte Aimard sich auch schauspielerisch und trat zum Schluss, wo es um Brahms ging, mit Bart auf. Der Abend endete mit dem Gedicht „Kein Wunderkind“, das den Ausblick gab, mit 97 Jahren doch noch eines zu werden.
Alfred Brendel, der sich trotz seiner Orientierung an Edwin Fischer und Alfred Cortot weitgehend autodidaktisch zum Pianisten entwickelte, hat seine Schüler zur Selbständigkeit erzogen. Wie Till Fellner in der Festschrift berichtet, verglich er die Musik oft mit dem Theater. Jedes Klavierstück bedeutet eine neue Rolle mit wechselnden Charakteren. Der Interpret soll klavierspielend singen, sprechen, dirigieren und instrumentieren. Von Brendel ausgewählte Pianisten, darunter ehemalige Schüler, interpretierten während der Hommage den für ihn besonders bedeutungsvollen Zyklus der Beethovenschen Klavierkonzerte. Dem aus der Schweiz stammenden Francesco Piemontesi fiel dabei das C-Dur-Konzert Nr. 1 zu. Nachdem das Konzerthausorchester unter Jan Willem de Vriend eine Ouvertüre des Beethoven-Schülers Ferdinand Ries und die 1. Schubert-Sinfonie noch recht kalt exekutiert hatte, bedeutete die Wiedergabe des Klavierkonzerts eine deutliche Steigerung. Piemontesi stellte im Kopfsatz Haupt- und Seitenthema als zwei verschiedene Ausdruckswelten vor, die er in der ausgedehnten Kadenz bis ins Hochdramatische steigerte - als Parodie der üblichen Virtuosität, wie Brendel diese Kadenz gedeutet hatte.
Den 1992 in Los Angeles geborenen Kit Armstrong, der im Alter von 13 Jahren zu Brendel kam, bezeichnete dieser einmal als „die ungewöhnlichste Begabung, der ich je begegnet bin“. Heute ist der junge Kalifornier kein Wunderkind mehr, sondern ein gereifter Pianist, dem sein Mentor „eine Einheit von Gefühl und Verstand, Frische und Verfeinerung“ bescheinigt. Zusammen mit den Wiener Philharmonikern durfte Armstrong Beethovens Klavierkonzert Nr. 3 spielen. Dabei gingen die Impulse von ihm aus, nicht vom bald 90jährigen Herbert Blomstedt. Mit wunderbar transparentem Spiel modellierte der junge Pianist jede Phrase. Die große Kadenz im Kopfsatz entwickelte er logisch aus dem Hauptthema, um dann beim Seitenthema außerordentlich innig und ausdrucksvoll zu werden. Im langsamen Satz ließ er mit konzentriertem Piano das Außergewöhnliche der Tonart E-Dur innerhalb eines c-Moll-Werkes spüren und hob im Finale besonders die harmonischen Ausweichungen hervor. Als Zugabe spielte Armstrong mit feinster dynamischer Differenzierung die Allemande aus Mozarts selten zu hörenden Suite KV 399.
In den letzten Jahren hat Alfred Brendel besonders gern mit jungen Streichquartetten und Sängern gearbeitet. Deshalb gehörte zur Hommage ein Liederabend mit dem Tenor Mauro Peter sowie ein Streichquartett-Fest mit fünf Ensembles. Die Auftritte des Merel Quartetts und des Quatuor Ebène leitete Brendel durch je einen kurzen Vortrag ein. An Beethovens Spätwerk hob er den Drang des Komponisten nach Unmittelbarkeit, Vielfalt und instrumentalem Gesang hervor. Tatsächlich gab das 2002 in Zürich gegründete Merel Quartett dem Kopfsatz von Opus 130 mit rundem und weichem Klang die von Brendel erwähnte „Wärme einer Liebeserklärung“ und wechselte im zweiten Satz „zwischen Lyrik und Komik“. Besonders anrührend und zerbrechlich geriet die Cavatina, die Brendel mit Beethovens Sorge um seinen Neffen Carl in Verbindung gebracht hatte. Danach bewältigte das Züricher Ensemble die Große Fuge op. 133 trotz der enormen thematischen Dichte mit erstaunlicher Transparenz.
Den Abschluss des Streichquartett-Fests bildete die Wiedergabe von Schuberts letztem Kammermusikwerk, seinem Streichquintett C-Dur durch das bereits international bekannte Quatuor Ebène. Adrian Brendel, der Sohn des Pianisten, übernahm hier den zweiten Cellopart und fügte sich von Satz zu Satz bruchloser ins Ensemble ein. Alfred Brendel nannte das Werk einleitend den „überwältigenden Schlusspunkt“ von Schuberts Kammermusik, „ebenso hinreißend wie bestürzend“; im Ausweichen in abgelegene Tonarten und in den dynamischen Extremen gehe dieses Quintett noch über Beethoven hinaus. Tatsächlich kam es zu einer kammermusikalischen Sternstunde. Dazu trug auch die gute Akustik im Großen Saal des Konzerthauses bei, wo die Zuhörer zusammen mit den Musikern auf dem Podium saßen. Murren gab es nur angesichts der Warteschlangen beim Einlass.
Für den 1976 geborenen Adrian Brendel hatte der Abtritt seines Vaters vom Konzertpodium eine Zäsur bedeutet, „tiefgreifender, als ich mir jedenfalls vorgestellt hätte“. Mit ihm hatte er noch 2003/2004 Beethovens Cellosonaten erarbeitet und aufgenommen. Inzwischen leitet Adrian Brendel ein eigenes Musikfestival und bildete zusammen mit Kit Armstrong und Andrej Bielow ein Klaviertrio. Im Duo mit Armstrong trat er am letzten Tag der Brendel-Hommage auf. Anders als sein Lehrer bevorzugt Kit Armstrong Bechstein-Klaviere, die seinem weichen Klangideal offenbar besonders gut entsprechen. Bei den Werken von Bach, Schumann und Bartók, die bei dieser Matinee erklangen, begnügte er sich allerdings allzu oft mit der Rolle des diskreten Begleiters, als übertrage sich die Ehrfurcht vor dem Lehrer und Mentor nun auch auf dessen Sohn. Zu einer gleichberechtigten Partnerschaft kam es erst bei Ernst von Dohnányis B-Dur-Sonate op. 8, bei der Adrian Brendel etwa in den schnellen Tonrepetitionen des Scherzos sein bewegliches Bogenspiel ebenso beweisen konnte wie Armstrong seine souveräne Technik im durchweg anspruchsvollen Klavierpart. Bei der letzten Verbeugung reichte der Cellist seinem jungen Kollegen sogar die Hand.
Die 20 Konzerte dieser Brendel-Hommage bescherten dem Publikum zwar kein völlig neues Repertoire, jedoch einen anderen, intensivierten Zugang zur Musik. Man lernte, sie durch Brendels Brille zu sehen, sie mit den Ohren eines denkenden Musikers zu hören. Besonders stark besucht waren deshalb Veranstaltungen, an denen Alfred Brendel persönlich mitwirkte. Stets sah man an seiner Seite den Intendanten Sebastian Nordmann, der am Konzerthaus Berlin mit immer neuen dramaturgischen Ideen die Konzertroutine durchbricht. Die Hommage-Reihe hatte er mit Kurt Sanderling, Leonard Bernstein, Yehudi Menuhin und Nikolaus Harnoncourt begonnen. Im nächsten Jahr soll eine andere Leitfigur des Musiklebens im Mittelpunkt stehen: Mstislaw Rostropowitsch.