In Dortmund gab es im März 2020 eine gespenstische Vorstellung. „Die Stumme von Portici“ war eine der letzten Premieren vor dem ersten Lockdown; eine Geisteraufführung gerade noch für eine Handvoll Kritiker. Im November 2021 gibt es wieder die Premiere eines besonderen Stückes. Diesmal ist die Ausgrabung noch ambitionierter. Von Ernest Guirauds und Camille Saint-Saëns’ „Frédégonde“ dürften nur Spezialisten etwas gewusst haben.
Die Dortmunder Inszenierung bietet neben dieser per se verdienstvollen Entdeckung auch gleich noch die Summe des bisherigen Erfahrungszuwachses der Opernhäuser im Umgang mit den diversen Vorschriften, die sich im pandemischen Ausnahmezustand für die Produktion und Präsentation von Oper etabliert haben. Dass wieder ein Lockdown wie ein Damoklesschwert über den Opernhäusern hängt, wundert nicht, wenn man sich (freiwillig auch mal draußen mit Maske!) durch das vorgezogene Weihnachtsmarktgetümmel kämpfen musste. In Dortmund tun offenbar alle einfach so, als wäre nichts.
Erst im Opernhaus wird ordentlich kontrolliert und Maske getragen. Besetzt sind nur die Ränge – das Parkett ist für den Chor reserviert. Die Musiker der Dortmunder Philharmonie unter Leitung von Motonori Kobayashi sind auf der Bühne platziert. Den acht singenden Protagonisten ist eine schmale Spielfläche samt große Tafel an der Rampe vorbehalten. Dazu gibt es einen eigens gedrehten Stummfilm zur Handlung, bei dem die französische Regisseurin Marie-Eve Signeyrole und Laurent La Rosa Regie geführt haben.
Als diese Inszenierung 2019 konzipiert wurde, war an die Pandemierestriktionen und damit dieses Konzept noch nicht zu denken. Im April 2021 entstanden dann Filmaufnahmen, in die auch der Chor unter freiem Himmel eingebunden war. Das nordöstlich von Dortmund gelegene, im Besitz der Familie zu Knyphausen befindliche Wasserschloss Bodelschwingh, samt Park, erwiesen sich als eine ideale Filmkulisse. Es ist per se eine logistische Glanzleistung der Oper Dortmund, diese Melange aus konzeptioneller Anpassung, szenischer Einstudierung und Terminverschiebung zu einer Premiere von besonderem ästhetischem Reiz gebracht zu haben. Zwar auch wieder nicht vor vollem Haus, aber mit Zuschauern für geplante vier Vorstellungen (wieder am 27.11.2021 und dann am 7.05. und 22.05.2022) und überdies mit einem Streamangebot kombiniert.
Sieht man von den Vorgaben der Abstands- und Hygieneregeln ab, ist es eine Kombination von halbkonzertanter Liveaufführung mit einer cineastischen Dimension. Die Leinwand endet so weit über dem Boden, dass man noch einen Teil des Orchesters auf der Bühne sieht. Die Rechnung, einen relativ klaren Konflikt, vor einem komplizierten dynastischen Macht- und Familiengewirr aus der entlegenen historischen Epoche der Merowinger zu präsentieren, geht mit dieser Kombination der Mittel jedenfalls auf. Die Einblendungen mit Anmerkungen zum historisch hintergründigen wann wer gegen wen und warum was unternommen hat, folgen zwar zu flott aufeinander, um sie wirklich zu erfassen, und weiße Übertitel machen sich auf hellem Untergrund auch nicht besonders gut. Aber sei‘s drum: Die Atmosphäre eines düsteren Machtkampfes und Rachefeldzuges stellt sich schnell ein. Auch wenn (oder vielleicht sogar weil) die Akteure im Film und auf der Bühne nur bedingt historisch ausstaffiert sind.
Bei den beiden Rivalinnen, die hier im königlichen Schachspiel auf Leben und Tod gegeneinander antreten, kennt Kostümbildnerin Yashi (sie ist in Berlin geboren, hat viel mit Robert Wilson, aber auch auf eigene Rechnung gearbeitet) nichts. Es hat klassisches Maria-Stuart-Format, wie die abservierte Königin von Austrasien Brunhilda und die regierende und ihren Mann Hilpéric (im königlich goldnen Gewand: Mandla Mndebele) fest im Griff habende, aus niederem Stand aufgestiegene Königin Frédégonde von Neustasien aufgestylt sind und aufeinander losgehen. Das große Duett im vierten Akt, bei dem Frédégonde ihren Gemahl „überzeugt“, ihrem Willen zu folgen, gehört zu den Höhepunkten der Oper – hier kommt die Titelheldin an das Format einer Lady Macbeth heran.
Wobei Hyona Kim für die Kanaille Frédégonde etwas mehr dramatischen Furor aufzubieten hat, als Anna Sohn für ihre Gegenspielerin Brunhilda. Die beiden Königinnen spielen Schach miteinander. Auf der Bühne. Im Film. Und in ihrem Leben. Frédégonde in königlichem Weiß mit Krone auf der raffen Frisur. Brunhilda in Schwarz, mit Leidensmine und mit offenem Haar. Im Prinzip geht es in diesem 1895 in Paris uraufgeführten Fünfakter um den handfesten Machtkampf zwischen den beiden ehrgeizigen Frauen. Dazu kommt, dass der verhasste Stiefsohn Frédégondes Mérowing die gefangen gesetzte Brunhilda nicht wie ihm befohlen im Kloster abliefert, sondern sich in sie verliebt, sie heiratet und mit ihr durchbrennt. Sergey Romanovsky ist nicht nur mit tenoralem Schmelz ein Prinz von Format, er ist es auch im Habitus und als Filmheld.
Er zwingt den Bischof Prétxtat (Denis Velev) dazu, ihn gegen dessen Willen zu verheiraten und als der väterliche und königliche Zorn ob dieser Unbotmäßigkeit über ihn hereinbricht, den Verfolgten kirchliches Asyl zu gewähren. Zum Showdown kommt es, als Frédégonde ihren Rachewillen durchsetzt, der König seinen Sohn aus dem Asyl lockt und verurteilt. Dem bleibt nur, selbst ins gezückte Messer Frédégondes zu laufen und sie so als Prinzenmörderin ins Unrecht zu setzen. Was das für Folgen hat, erfahren wir nicht. Denn danach wird abgeblendet.
Diese fünfaktige Grand Opéra ist ein unfreiwilliges Gemeinschaftswerk. Ernest Guiraud (1837-1892) hinterließ bei seinem Tod drei komponierte Akte. Von Saint-Saëns (1835-1921) stammen der vierte und fünfte Akt (zu denen er die vorgesehenen weiteren drei zusammenfasste), so dass beide Komponisten jeweils eine Hälfte beigetragen haben. Hinzu kommt die Orchestrierung durch Paul Dukas. Für die Zeitgenossen dürfte Nähe bzw. Abstand zu Wagner wichtiger gewesen sein, als für ein heutiges Publikum, bei dem Debussy und exemplarische Grand Operas der Übermacht Wagners auch ein typisch französisches Musikidiom entgegensetzen. So wie sich Guiraud dem deutschen annäherte, entfernte sich Saint-Saëns von ihm. Wie bei Wagner durchkomponiert ist Frédégonde allemal und die Dortmunder Philharmoniker, die Protagonisten und der von Fabio Mancini einstudierte Chor werfen sich jedenfalls mit Lust ins beredete französische Pathos. Und das Publikum würdigte eine beachtliche Kunstanstrengung angemessen.
(Die deutsche Erstaufführung entstand in Kooperation mit dem Palazetto Bru Zane, dem Centre de Musique romantique francaise.)