Dank seiner „Medée“ ist Luigi Cherubini (1760-1842) heute noch – oder besser wieder – im Repertoire präsent. Erst Dank Maria Callas und dann des Ausgrabungsehrgeizes von Häusern wie Erfurt. Aber auch in Berlin oder in Saarbrücken gab es in jüngerer Zeit bemerkenswerte Inszenierungen dieser antiken Tragödie aus dem Jahre 1797, die auch zeitgenössische Komponisten (wie Aribert Reimann) immer noch reizt.
Das kleine aber rührige Theater Rudolstadt setzt jetzt in Sachen Cherubini-Ehrgeiz noch eins drauf und holt „Idalide oder Die Jungfrau der Sonne“ aus der Versenkung. Das ist eine der ersten Opern, die der 24jährige zum Libretto von Ferdinando Moretti vor seinem Wechsel nach Frankreich noch in Italien komponierte und mit der er 1784 Aufsehen erregte. Das Werk ist danach nicht nur von der Bühne verschwunden. Es sind auch Teile des Materials verloren gegangen. Damit kann sich das Thüringer Theater tatsächlich die erste Wiederaufführung des Werkes nach 235 Jahren auf die Fahnen schreiben! Da die Musik der Rezitative und des Schlusschores fehlen, bleibt so beim „Vorhang zu!“ zumindest die eine entscheidende Frage, ob nämlich das Liebespaar in der Bredouille am Ende überlebt oder nicht, offen. Dass im Libretto ein glückliches Ende vorgesehen ist, also die Liebe über eine tödliche Konsequenz von Staatsraison siegt, ahnten wir vor allem durch die Botschaft der Musik. Wir bekommen genau das als Information auch mit auf den Weg aus dem Meininger Hof in Saalfeld, wo diese Wiederentdeckung jetzt über die Bühne ging.
Das Fehlen der Rezitative hat der russische Regisseur Viktor Vysotzki als Steilvorlage für seine szenische Einrichtung genutzt, die sich natürlich obendrein auch auf die begrenzten Bedingungen der Spielstätte in Saalfeld einstellen muss. Diese Lücken hat er genutzt, um das verbleibende Material in eine TV-Show unter dem Titel „Schuld oder Schicksal“ zu integrieren. Der Moderator, Schauspieler Jochen Ganser, hat alle Protagonisten eingeladen, die am Skandal des Jahres im Sonnenstaat beteiligt waren.
Im Libretto geht es um eine Episode aus der Zeit der Eroberung Südamerikas. Der goldfunkelnde Sonnenkult der Inkas sorgt für Glanz und Glamour. Die Titelheldin Idalide ist eine der priesterlichen Jungfrauen dieses Kultes. Der erfolgreiche Eroberer ist hier der Portugiese Enrico, hat sich beim Herrscher Ataliba nützlich gemacht, aber – verbotenerweise – auch ein Auge auf Idalide geworfen, die wiederum dessen Avancen erwidert. Gerade als es zu knistern anfängt, gibt es einen Vulkanausbruch, der alles ins Wanken bringt. Das berühmte, große Erdbeben von Lissabon von 1755 war dreißig Jahre danach im Bewusstsein noch so präsent, dass es diese mentale Erschütterung auch ins Libretto schaffte. Enrico nimmt das als Zeichen, alle Tabus zu brechen, Idalide aus dem eingestürzten Tempel zu retten und mit ihr zu fliehen. Was natürlich scheitert und damit die privaten Gefühle von zwei Menschen zu einer Frage der Staatsraison macht.
Das bleibt auch so, wenn man das Ganze aus dem Inkareich in einen fiktiven Sonnenstaat von heute verlegt, aus dem König eine Generalissima, aus Idalide einen Beamtin des Sonnenministeriums, aus Enrico einen ausländischen Berater macht und alle, die was dazu zu sagen haben, in eine Talkshow ins Fernsehen einlädt. Da genügen Ausstatterin Gretl Kautzsch ein paar Stehpulte, eine innen ausgehöhlte Inka-Pyramide und eine Projektionswand für sparsam aber effektvoll eingespielte Videos. Vor allem der Kopfputz zu den stilisierten Kostümen verweisen auf die Rollen.
Während die Musik seiner „Medée“ auf Weber und die Romantik vorausweist, ist Cherubinis „Idalide“ noch ein klingender Beleg für seinen Ruf unter den Zeitgenossen als „französischer Mozart“. Die Arienfolge klingt jedenfalls schon sehr nach Mozart. Die Dramaturgie seiner dreiaktigen opera seria ist übersichtlich. Nach der schwungvollen (auch mal nach Gluck klingenden) Ouvertüre hat jeder der Protagonisten eine große Arie, mit der er sich (in dieser Inszenierung nach einer kurzen Vorstellung mit Foto und Kurzbiographie) einführt. Hier liegt die Frauenquote bei den Sängern bei einhundert Prozent. Auch die Männerrollen werden von Sängerinnen verkörpert. Ursprünglich waren zwei Kastraten dabei. Und da ist es dem kleinen Thüringer Theater gelungen, speziell für diese Produktion ein Ensemble junger Sängerinnen zu engagieren, das sich durchweg glänzend schlägt. Es sind durchweg junge unverbrauchte, aber gut geschulte und koloraturgeschmeidige Stimmen. Das beginnt bei Sopranistin Katharina Borsch und ihrer mit blitzenden Höhen gekrönter Idalide und Lena Spohn als ihrem leidenschaftlichen Verehrer Enrico. Es geht weiter über die dem eigentlich als „Belohnung“ zugedachte Alciloe, die Daria Kalinina mit Mut zur einfersüchtigen Zickigkeit serviert. Bis hin zu Idalides in Panik geratenden Vater Palmoro, dem Josefine Göhmann einen Hauch Altershabitus hinzufügt bis zu Martha Jordan als royaler Generalissima Ataliba. Hier ist ein Ensemble beisammen, bei dem man sich nach jeder Arie auf die nächste freut.
Musikalisch emotional bleibt die Arienfolge auf einem Erregungsniveau, das packen will und dem das auch gelingt. Das Terzett im Dritten Akt bei dem Idalide, Enrico und Palmoro ausführlich ihre Verzweiflung zelebrieren, ist dabei ein gewisser Höhepunkt, der mit einer emotionalen Erschütterung dann doch etwa herausragt.
Der Chefdirigent der Thüringer Symphoniker Saalfeld-Rudolstadt Oliver Weder hatte für sein Orchester und das Theater die Chance ergriffen, die sich aus der Praxis des Verlags Boosey & Hawkes beim Erstellen der Gesamtausgabe von Cherubinis Werken ergab, vor dem Druck des Notenmaterials eine Aufführung dieser Oper zu realisieren. Am Pult widmet er sich mit erkennbarer Empathie sowohl der Musik als auch den Sängern. Ein mit Mozart allenthalben vertrautes Publikum hat mit diesem Cherubini keine Probleme – ganz im Gegenteil.