Die Flämische Oper beschließt in Antwerpen die Dekade unter Leitung von Aviel Cahn mit einem von Michael Thalheimer atemberaubend inszenierten „Macbeth“. Nein, sie stehen nicht nur am Abgrund und schauen hinein. Sie sind längst einen Schritt weiter. Ganz tief unten. Von Anfang an. Joachim Lange spricht Klartext.
Dieser Verdi-„Macbeth“, mit dem eine erfolgreiche Ära in der Geschichte der Flämischen Zweistädteoper Antwerpen/Gent endet, ist für sich genommen ein szenischer und ein musikalischer Paukenschlag. Und er ist ein Ausrufezeichen hinter den Jahren, in denen Intendant Aviel Cahn sein Haus (bzw. seine Häuser) ganz vorn in der Opernlandschaft Belgiens und mitten in Mitteleuropa etabliert hat. Nimmt man mal – politisch inkorrekt – das deutschsprachige Mitteleuropa als das Maß der Dinge für lebendiges Musiktheater, dann gehört die Flämische Oper (wieder politisch inkorrekt) eindeutig dazu. Es ist (wie z.B. auch Amsterdam) die Stagione-Version lebendiger Oper, die nicht nur den Stars eine Bühne und den Melomanen Augenschmaus und Ohrenfutter serviert, sondern Oper als Musiktheater ernst nimmt. Dass Regisseure wie Michael Thalheimer gerne einem Ruf ins Flämische folgten verwundert nicht. Zumindest Aviel Cahn (wie sein Kollege Peter de Caluve in Brüssel) sind auch in Sachen Regie auf der Höhe der Zeit.
Die Flämische Oper hat sich zum Abschluss einen in jeder Hinsicht ziemlich schwergewichtigen Band im Schuber geleistet: Opera out of the box heisst er und fasst zehn Jahre zusammen. Man könnte ihn auch etwas flapsig unter dem Titel „So geht Oper heute“ verkaufen.
Nur „Macbeth“ ist da noch nicht dabei und würde sich doch würdig einreihen!
Abschluss der Verdi-Trilogie
Für Thalheimer und sein Team ist es der Abschluss einer Verdi-Trilogie zu der „La Forza del Destino“ (2012) und „Otello“ (2016) gehören. Mit Shakespeare selbst ist Michael Thalheimer als Schauspielregisseur längst vertraut. Vor zwei Jahren hat er in München „Richard III.“ in die Düsternis von dessen schwarzer Seele verbannt. „Macbeth“ hat er in der Heiner Müller Bearbeitung im vorigen Jahr im Berliner Ensemble durch Nebel und Blut wanken lassen. Da freilich ließ Macbeth seine Lady einfach mit entblößten Brüsten stehen, weil er Schottland als seine Braut vorzog. In Antwerpen liegen die beiden am Ende gemeinsam an der Rampe wie das düstere Spiegelbild eines Liebespaares par excellence. Die Wucht der Shakespearschen Exkursionen in die Abgründe der menschlichen Seele passen auch in ihren Opernversionen zu Thalheimers Methode, die Stücke und die letzten Dinge, die sie verhandeln, auf den Punkt zu bringen. Sein Team hat daran keinen geringen Anteil – diesmal sind es wieder Hendrik Ahr (Bühne) und Michaela Barth (Kostüme).
Hexenkessel, Abgrund, Grube – diesen Assoziationen kann man keine Sekunde ausweichen, sie sind gewaltig – auch im Sinne des Wortstamms Gewalt … das ist atemberaubend simpel. Bringt die Dinge auf den Punkt. Etwa, wenn die Hexen in ihrer zweiten großen Prophezeiungsszene einen Leichnam ausweiden – hier muss niemand blubbernden Sud rühren, hier sind sie selbst der Sud. Gespenstisch und mit sparsamem Theatereffekt dann die Prophezeiungen selbst. Der blutverschmierte große Mann mit verhülltem Kopf, das Kind mit den Zweigen des Waldes von Birnam und schließlich die vielen Könige, die dem ermordeten Banco ähneln…..
Bewusst verwischt werden die Grenzen von realem Geschehen im Stück und von dem, was nur im Kopf von Macbeth geschieht bzw. ausgeblendet wird. Da liegt also der ermordete Banco als blutige Leiche, dem die Mörder auch noch die Stiefel ausgezogen haben. Weder der gerade gekrönte Macbeth noch seine extensiv um gute Stimmung bemühte Lady scheinen ihn zu sehen. Und doch ist mit Händen zu greifen, dass er ihnen gegenwärtig ist, und gleichsam auf der Seele liegt. Die beiden unten in ihrem Abgrund auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Der Hofstaat steht oben am Rand – so wie vorher die Hexen und dann die Mörder. Alle sind Papierschlange behängt und für einen Moment durch eine explodierende Salve von bunten Papierschnipseln erschreckend kurz illuminiert. Die Königin versucht, in prä-wahnsinniger Übermotorik Fröhlichkeit zu erzwingen. Dabei führt sie einen regelrechten Tanz auf. Der neu gekrönte König fordert das Publikum oben am Rand persönlich zum Jubel auf – was ihm aber gerade mal für Augenblicke und dann auch nur bei denen, die er unmittelbar im Auge hat, gelingt. Bis Macbeth und die Lady über Bancos Leiche stolpern und der sich wie ein Geist erhebt. Dieser Balanceakt auf der Grenze von Wahn und Wirklichkeit ist nicht nur völlig stringent gedacht, sondern auch theatralisch überzeugend und mit knapper Wucht gemacht. So ähnlich ist es auch, wenn die Lady im Wahnsinn versinkt – in einem Lichtviereck in der Mitte bis zur Rampe hin. Dort bleibt sie zusammengesunken sitzen. Ihr Mann singt sie zwar an, bemerkt aber erst, wen er da eigentlich vor sich hat, als die Botschaft von ihrem Tod durch den Raum hallt.
Pointe
Am Ende die Pointe: Wenn Macduff dem Usurpator hinter ihm stehend die Kehle durchgeschnitten hat und der auf die Leiche seiner Frau sinkt, geht dessen Krone fast wie von selbst in dessen Hände über. Als Thronanwärter Malcolm (Michael J. Scott) auftaucht, entreißt er sie ihm nicht nur mit großer Entschlossenheit, sondern schubst Macduff rabiat beiseite, putzt sie schnell noch am Schottenrock von Macbeth blank, gebärdet sich wie ein siegreicher Profiboxer und verlangt, wie vor ihm Macbeth, vom Volk, das immer noch oben am Rande des Abgrundes steht, ihm zuzujubeln. Noch während der neue König im Selbstbewusstsein seiner neuen Macht abgeht, taucht ein kleiner Junge auf. Während er sich selbst eine funkelnde Krone auf den Kopf setzt, quillt aus seinem Mund das Blut, das schon vor ihm so reichlich geflossen ist. Keine Hoffnung auf Besserung, heißt das unverkennbar. Und auch: die Hexen hatten recht.
Und Aviel Cahn mit der Wahl dieses Inszenierungsteams für dieses Stück. Denn hier funktioniert die Methode Thalheimer mit ihrer zelebrierten Reduktion, die im metaphorischen Gefängnis einer reduzierenden Ästhetik zum Psychokammerspiel führt. Es ist ein Wurf, der auch da, wo er mit einer überraschenden Melange aus Witz und Wahnsinn spielt, einfach stimmt. Wenn man hier die Leichen nicht sieht über die man stolpert oder das Blut, das bis weit über die Ellenbogen reicht. Oder, wenn eine der Hexen wie das personifizierte Böse stets auf der Szene lauert und Macbeth im Auge behält. Oder aber wenn die Lady ihren Mann wie ein Vampir in den Hals beißt. All das ist in diesem Kontext genau richtig. Zum Glück verschwindet diese Produktion nicht, wenn sie an der Flämischen Oper abgespielt ist. Wie Luxemburg wird auch Christoph Meyer diese Koproduktion im Mai 2020 wieder an die Deutsche Oper am Rhein nach Düsseldorf übernehmen.
So wie die so grandios vitale Musik Verdis. Paolo Carigniani langt am Pult des Symphonischen Orchesters der Flämische Oper kräftig zu, setzt auf das Raue, Wilde dieses mittleren, noch kein bisschen abgeklärten Verdi. Er hat aber ein Protagonistenensemble auf der Bühne, das damit keine Probleme hat.
Als Macduff setzt Najmiddin Mavlyanov bei seiner Arie „O figli, o figli miei!“ nach dem „Patria opressa“ Chor zwar etwas zu sehr auf eine Art dramatischen Kriegsbelcanto. Aber, dass der Chor nicht gleich von Anfang an von der Rampe aus den Saal fixiert, sondern in den Abgrund rutscht, als würden Leichen entsorgt, überlagert als starker Eindruck jeden Einwand. Als Banco ist Tareq Nazmi anfangs an der Seite von Macbeth eine eindrucksvoll stattliche Erscheinung mit enormer stimmlicher Präsenz. Wenn der markige Macbeth des amerikanischen Bassbaritons Craig Colclough im Moment seiner größten Verzweiflung (in der großen Szene Nr. 16 mit den Hexen) stimmlich die Grenze des gesungenen furchterregenden Wohlklangs überschreitet, dann passte das jedenfalls – ganz gleich ob es Absicht war oder er sein Kräftelimit erreicht hatte. Eine Sensation ist Marina Prudenskaya als Lady Macbeth. Sie kommt Verdis oft zitierter, von den Interpretinnen aber dann doch umgangenen Forderung nahe, die Lady eben nicht „schön“ also belcantisch zu singen, ohne dass sie sich verstellten muss. Aber auch ohne, dass irgendein Zweifel aufkäme, dass sie diesen Exkurs ins vokale Abenteuer nicht jederzeit wieder verlassen könnte. Sie ist eine geradezu exemplarische Lady!