Im vorigen Jahr hatte das Polizeiaufgebot vor den Kolonnaden des Staatstheaters in Wiesbaden einen handfest praktischen Sinn. Wobei auch damals vorm Theater vor allem lautstark, aber nicht handgreiflich das Contra und im Saal dann das enthusiastische Pro für einen der wenigen echten Weltstars der Oper von heute zelebriert wurde. Für die Aktivisten draußen kann Anna Netrebko gegen den russischen Angriffskrieg sagen (lassen) was sie will, man glaubt es ihr eh nicht.
Eis, das sich entzündet … – Anna Netrebko ist Turandot bei den Maifestspielen des Staatstheaters Wiesbaden
Die publizistische Verstärkung der legitimen Proteste verlangt in der Konsequenz Künstlern, die aus Russland stammen oder dort ihren Lebensmittelpunkt haben oder hatten, ein demonstratives Bekenntnis ab, das dem politischen Mainstream im Westen entspricht. Wird das nicht bzw. nicht deutlich genug geliefert, geraten sie (zumindest im übertragenen Sinne und in einigen Medien) in Acht und Bann. Dass die Konsequenzen, die mit der durchgängigen Erfüllung der Forderungen verbunden wären, die Etablierung einer einheitlichen, quasi offizielle Meinung wäre, von der abzuweichen ein persönliches Risiko beinhaltet, nimmt man da offensichtlich nicht wahr oder eben in Kauf.
Zum Glück hatten jene Plakate mit der Aufschrift „Die russische Kultur ist das tödliche Virus“ der Anti-Netrebko Demonstranten vom vorigen Jahr im deutschen Kulturbetrieb keine realen Folgen. Noch wiederholte sich, nach allem was darüber berichtet wurde, der mit Kuhglockenlärm und Beschimpfungen der Besucher versehene Protest von 2023 nicht noch einmal in diesem Umfang. Beim zweiten Auftritt von Anna Netrebko als Turandot am 8. Mai gab es keinen Demonstranten, nirgends. Nur vorsorglich postierte Polizei war vor Ort.
Ansonsten galt’s der Kunst. Wobei natürlich gerade die letzte unvollendet gebliebene Oper von Giacomo Puccini, in der reihenweise junge Männer öffentlich geköpft werden, eine Steilvorlage dafür liefert, über diese Art von Barbarei nachzudenken. Es wird eine gedankliche Weltreise, die in China beginnt, im Iran und Saudi-Arabien Zwischenstation macht und in den USA ankommt. Abgesehen davon ist beim „Turandot“-Personal, ganz gleich, ob das Ganze nun als Märchen oder als Parabel erzählt wird, die Ansammlung von Fanatikern verschiedener Art außergewöhnlich hoch. Das betrifft nicht nur die Prinzessin, die ein nicht erlebtes, sondern übermitteltes Vergewaltigungstrauma einer Urahnin mit enthemmtem Sadismus kompensiert. Das gilt genauso für alle Bewerber, die sich mit einem Überschuss an männlicher Eitelkeit und Hybris auf das tödliche Ratespiel einlassen. Selbst der männliche Held im Stück, Calaf, ist einer von ihnen. Er und auch sein Vater Timur lassen zu, dass sich Liù selbst opfert. Das skrupellose und korrupte Ministertrio Ping, Pong und Pang ist da nur eine Zugabe. Selbst beim Kaiser Altoum fragt man sich, wie schwach der eigentlich ist, wenn er nicht mehr die Kraft hat, um seiner blutrünstigen Tochter das Handwerk zu legen. Der von Puccini skizzierte Schluss, bei dem sich Calaf und Turandot „kriegen“, geht wirklich nicht. Wie sollte das auf einem Berg von Leichen je funktionieren. Laut Tucholsky wird ja im Film nach einem Happy End jewöhnlich abjeblendt. In dieser Oper muss das lange davor passieren, weil man hier kein Happy End glauben würde. Puccinis Tod über dem unvollendeten Manuskript wurde so zu einem Aufruf an die Nachwelt bzw. die Regisseure, zu übernehmen und damit klarzukommen.
In Wiesbaden hat Daniela Kerck (Inszenierung und Bühne) sich nicht für einen der eingebürgerten Vollendungsversuche der Oper eingelassen. Weder auf den von Franco Alfano bei der postumen Uraufführung in Mailand 1926, noch auf den neueren von Luciano Berio aus dem Jahre 2002. In Wiesbaden verklingt die Oper mit der Kammerversion des Requiems von Puccini selbst, das 1905 auch in Mailand uraufgeführt wurde.
Das wirkt schlüssig, weil Kerck eine biographische Folie über die Geschichte legt. Calaf ist ein Alter Ego des Komponisten, der freilich dann auch mit dem Selbstbewusstsein des Schöpfers auftritt, wenn er im Stück als Prinz agiert. Liù ist hier gleichzeitig seine Hausangestellte. Die Bühne wird von einer gewaltigen Bibliothek beherrscht. Der Calaf im weißen Puccini Anzug arbeitet am Klavier und füllt die Notenblätter, wenn er nicht die Partie des Prinzen von der Rampe in den Saal schmettert. Andrea Schmidt-Futterer und Frank Schönwald haben dem Volk von Peking einen düsteren Einheitslook verpasst vor dem sich die Opulenz der Klimtfarben für die Gewänder des Kaiser und vor allem seiner Tochter prachtvoll abhebt.
Für den Wechsel der privaten Ebene des Komponisten bei der Arbeit zum archaischen Pomp seiner Kreation sorgen vor allem die Videos von Astrid Steiner. Im Handumdrehen können die die Bibliothek in eine Anmutung der verbotenen Stadt und – besonders effektvoll – mit flammenumlodernden Glocken und wogenden Bildschirmschonergebilden ins archaisch Allgemeine verwandeln. Die Personenführung freilich setzt auf symmetrische Auf- und Abmärsche und vertraut auf das darstellerische Charisma der Interpreten.
Es ist eine Inszenierung, in die ein Superstar wie Anna Netrebko problemlos einsteigen kann. Zumal Flexibilität und die Fähigkeit, sich in ein Team einzufügen, ohne den Star herauszukehren, zu ihrem darstellerischen Markenkern gehören. Hier gehören die große Stimme und die demonstrativ große Geste zur Rolle. Dabei setzt Netrebko ihre dunkel gefärbten Register im Wechsel mit den dramatischen Ausbrüchen perfekt dosiert ein. Sie beweist ihre Extraklasse, wenngleich ihr die Gioconda, die sie bei den Osterfestspielen in Salzburg sang, noch etwas idealer in der Kehle lag. Wer vor allem wegen Anna Netrebko nach Wiesbaden gekommen war, der bekam das besondere Erlebnis, das er erwartet hatte. Dass sich ihr als Calaf vorgesehene Ehemann Yusif Eyvazov krankheitsbedingt von Rodrigo Porras Garulo vertreten ließ, war wohl nur für die überschaubare Zahl der Fans von Eyvazovs Stimme ein Problem. Für den Einspringer eine Chance, sich an der Seite von Netrebko zu profilieren und für das Publikum ein Gewinn. Ein dunkel gefärbter, wohltimbrierter und fokussierter Tenor mit einer Durchschlagskraft, die auch neben Netrebko mühelos bestehen konnte.
Ihre szenische Aufwertung in eine Doppelrolle (im Andenken an eine Puccini treu ergebenes Dienstmädchen, das sich selbst umbrachte), beglaubigt Heather Engebretson als Liù mit markantem Sopran. Young Doo Park ist ein balsamischer Tiumur. Erik Biegel (Altoum), Mikhail Biryukov (Mandarin) und Christopher Bolduc (Ping), Ralf Rachbauer (Pang) und Gustavo Quaresma (Pong) komplettieren achtbar das Protagonisten-Ensemble.
Michelangelo Mazza hält das bis in die Portallogen expandierte Orchester, den Chor und das Bühnengeschehen nicht nur zusammen, sondern weiß selbst die bombastischen Ausbrüche so zu dosieren, dass sie dennoch nicht übermächtig werden. Er endet da, wo Puccini geendet hat. Beim angefügten Requiem stirbt das Puccini Alter Ego den Bühnentod und Turandot schreitet auf die wogenden Wellen im Hintergrund zu. Jubel mit einen Star-Zuschlag für Turandot.
Weiterlesen mit nmz+
Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.
Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50
oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.
Ihr Account wird sofort freigeschaltet!