Das erste Elektra-Wunder besteht allein schon darin, dass es überhaupt stattfinden konnte. Da waren nicht nur der genius loci und das 100jährige Jubiläum der Festspiele am Werke. Die hatten Protagonisten auf ihrer Seite wie Festspielpräsidentin Helga Rabl-Stadler und ihren bereits fünften Intendanten Markus Hinterhäuser. Geradezu trotzig beharrten von Anfang an auf dem „Wir spielen – wie abgespeckt auch immer“. Maskenpflicht, Ausweiskontrollen und eine ausgedünnte Platzierung in Sälen sind das eine. Ein ausgeklügeltes Kontroll- und Distanzsystem hinter der Bühne und vor allem der Mut von Orchestermusikern wie denen der Wiener Philharmoniker, sich auf eigene Vorsicht und regelmäßiges Testen zu verlassen das andere.
Zusammen mit ihrem Dirigenten Franz Welser-Möst gaben sie im Graben der Felsenreitschule optisch ein „ganz normales“ Erscheinungsbild wie immer ab. Das trauen sich nicht alle und man kann nur hoffen, dass es über die auf einen Monat verkürzte Festspielzeit auch gut geht.
Das zweite Wunder war eine zu erlebende Richard Strauss Premium-Klasse, wie sie sonst vielleicht nur die Sächsische Staatskapelle hinbekommt. Welser-Möst und sein Orchester waren detailreich und lieferten doch den packenden großen Bogen. Ohne die manchmal ja gebotene Vorsicht, wenn es darum geht, die Stimmen auf der Bühne nicht zu verschütten. Hier ging es in die Vollen – kammermusikalische Ausdünnung steht uns im hoffentlich wieder bald beginnenden Alltag unter Corona-Bedingungen noch genug bevor.
Diese „Elektra“ wäre aber auch ohne die monatelange kollektive Opernklang-Quarantäne mit den entsprechenden Entzugserscheinungen beim Publikum zum Niederknien gewesen!
Dramaturgisch ist „Elektra“ für die Festspiele sowieso ein Glücksfall. Der einaktige Wurf stammt von den Festivalgründern, ist populär, ohne Pause und kurz genug. Eigentlich lieferte die Felsenreitschule mit den in Stein gehauenen Arkaden eine szenische Steilvorlage für die Archaik des Stücks. Aber es funktioniert auch, wenn die verkleidet sind. Vor diesem Hintergrund zelebrieren Krzysztof Warlikowski und seine Dauerausstatterin Małgorzata Szczęśniak ihre modern psychologisierende Familienaufstellung. In einer etwas ungefähren Moderne der Kostüme, einem verspiegelten Palastraum und einem langgezogenen Wasserbecken, das wohl für das Bad steht, in dem Agamemnon von seiner Frau und ihrem Geliebten ermordet wurde. An diese Vorgeschichte der Tragödie erinnert auch der gesprochene Prolog der Klytämnestra, in dem sie diesen Mord begründet und sich dazu bekennt. Aber das Auftauchen des toten Agamemnon oder das der Protagonisten als Kinder. Die Zerstörung jeder menschlichen Beziehung zwischen ihnen ist (nicht zum ersten Mal) das Thema Warlikowskis. Das Begegnung zwischen dem unerwartet heimkehrenden Orest und Elektra ist ein Moment der herbeigesehnten utopischen Flucht aus der eigenen Verstrickung und dem eigenen Leben. Eine Chance dazu bekommt jedoch nur Chrysothemis. So attraktiv und sexy wie die in den letzten Jahren am selben Ort als Salome bejubelte Asmik Grigorian diese junge Frau verkörpert, gönnt man ihr das von Herzen. Dass sie, die schon den Rachemord nicht mitmachen wollte, überlebt, ist eh der einzige Hoffnungsschimmer nach all dem Grauen! Als Sängerin erst Salome und dann die Frau neben Elektra – das ist kein Abstieg, sondern der pure Festspielluxus!
Der waltete bei den Stimmen durchweg. Ausriné Stundyté sieht man die Verwüstungen der Jahre im Rachewahn nicht gleich an, aber sie beglaubigt alle Facetten ihrer Partie ohne Kraftmeierei mit bestechender Eloquenz und einer dunkel leuchtenden Zartheit. Selbst Klytämnestra ist bei Tanja Ariane Baumgartner vor allem eine Frau, der man das Leben gestohlen hat. Sie singt nicht nur fulminant, sondern bewältigt auch den hinzugefügten gesprochenen Monolog grandios, in dem sie sich zum Mord an Agamemnon bekennt. Der opferte immerhin ihre Tochter Iphigenie, um die Götter günstig für seine Kriegspläne zu stimmen. Alle drei Frauen sind überwältigend. Dazu ein fulminanter Derek Welton, der als Orest glaubhaft an seiner Rolle als Rächer verzweifelt und Michael Laurentz mit einem präzisen Aegisth. Auch sonst – bei den Mägden und allen anderen – nur Vorzügliches! Ein musikalischer und vokaler Genuss von Anfang bis zum Ende.
Dass man in dem Rausch der Musik nicht vergisst, worum es eigentlich geht, ist dem szenischen Rahmen und der sparsam mit Effekten (wie dem zum Finale eskalierenden Blut- und Fliegenvideo) auftrumpfenden, aber vor allem der psychologisch konzentrierten Personenführung der Regie zu danken.
Trotz allem — ein großer Abend der Hoffnung!