Im aktuellen Opernprogramm der Salzburger Festspiele haben antike Mythen gleich dreifach ihren Platz: Zur Eröffnung mit Mozarts „Idomeneo“ und jetzt mit Cherubinis „Médée“. Enescus „Oedipe“ wird noch folgen. In der „Médée“ des für seine Überschreibungen bekannt gewordenen Simon Stone ist das Ende ein Amoklauf an der Tankstelle. Obwohl die nicht – wie es wohl im Film wäre – in die Luft fliegt. Ein Lagebericht von Joachim Lange.
Hier ist nur das Benzin vergossen und ein Kleinwagen qualmt. Während alle brav auf Distanz bleiben. Tote gibt es trotzdem. So wie Medea hier ihre Flucht mit den Kindern enden lässt, sieht es nach einer Kurzschlussreaktion aus. In den Meldungen darüber wären heute sicher Stichworte wie „Beziehungstat“, „psychische Probleme“ und „Migrationshintergrund“ zu lesen.
In dem noblen Ambiente, das Bob Cousins’ auf die Bühne des Großen Festspielhauses gebaut hat, funktioniert die Tragödie auf der Ebene eines Scheidungskrieges inklusive des Gezerres um die Kinder zunächst auch reibungslos. Inklusive der von Stone anstelle der gesprochenen Passagen hinzugefügten Nachrichten, die die zunehmend verzweifelte, aber dann in den Modus einer kalten Rache verfallende Medea auf den Anrufbeantworter ihres Mannes spricht. Womit die Inszenierung den Problemen für die Aufmerksamkeitsökonomie entgeht, die die langen gesprochen Passagen in Französisch sein können.
Dazu kommen die von Stone selbst und gut gemachten schwarzweißen Film-Einspieler, die das Ehepaar und seine Kinder zunächst wie das Musterbeispiel einer glücklichen Familie in ihrem Alltag zeigen. Bis der eine Junge etwas vergessen hat, die Mutter mit dem Auto noch mal umgekehrt, und bei dieser unverhofften Rückkehr ins eigene Haus, nicht nur zwei Weingläser auf dem Tisch im Wohnzimmer vorfindet sondern ihren Mann samt seiner Geliebten im Schlafzimmer. In dem Moment hat sie zwar für eine Trennung die „besseren“ Karten, aber Jason spielt seine Macht aus und die Tragödie nimmt ihren Lauf. Als Scheidungskrieg mit großem Skandal und etlichen Toten. Bis hinauf in die Spitze des Staates. Die Mutter packt die Koffer und wird nach der Scheidung ausgewiesen (Wohin eigentlich bei ihrer Vorgeschichte?). Im Fernsehen wird dann ihr skandalträchtiger Versuch einer Wiedereinreise übertragen. Der Innenminister (und Exschwiegervater) persönlich versucht sie auf dem Flughafen von der illegalen Einreise abzuhalten. In den TV-News kann man mitverfolgen wie sie sich mit einem Liegestreik widersetzt. Nur die beiden (fabelhaft natürlich spielenden) Buben Medeas, die von Néris betreut werden, bemerken seltsamerweise ihre bei ihrem dramatisch eskalierenden Fernsehauftritt auf dem Flughafen nichts. Obwohl die Kiste läuft. Das kurze Treffen mit ihren Kindern erlaubt Jason nur an einer Bushaltestelle, während er im Hintergrund wartet. Und wenn die sich dann – schon im Rachemodus – beim Bankett aus Anlass der Hochzeit ihres Ex mit seiner Neuen, der Kren-Tochter Dircé, einschleicht, eine Kellnerin matt setzt und in der Herrentoilette „ablegt“ (so wie Venus ein paar Tage vorher im neuen Bayreuther Tannhäuser, was natürlich nur Zufall sein kann) und sich unters Personal mischt, erkennt sie auch da niemand und sie kann zustechen und mit den Jungs zunächst eine dramatische Flucht beginnen. Auch hier ist man im Film dabei.
Die Tankstelle ist das Ende. Sie ist die Konsequenz in die Simon Stone die archaische Geschichte der Medea gespiegelt hat. Er sucht in der Gegenwart nach dem archaischen Muster des aus der griechischen Mythologie überlieferten Stoffes, also nach dem abgelagerten Vergangenen im Gegenwärtigen. Ein Anliegen, das so nachvollziehbar wie herausfordernd und heikel ist.
Christa Wolf hatte sich in ihrem Roman „Medea Stimmen“ (1996) der heute meist als monströs aufgefassten Medea mit verblüffender Sensibilität genähert. Der Kindermord und was ihm vorausging bleibt gleichwohl ein Bruch dieser Frau mit jeder Werteordnung ziemlich einzigartig. Bei Stones Annäherung (die ästhetisch einer Verfilmung nahekommt) gelingt das nicht wirklich durchgängig.
Wenn man „Médée" heute inszeniert und obendrein in unsere Gegenwart verlegt, dann gewinnt die Abschiebungsproblematik von selbst an Gewicht. Allerdings ist die auf einem anderen – sozusagen staatspolitischen Niveau angesiedelt und weniger auf dem der Fälle, für die man in Mitteleuropa gerade mehr oder weniger hilflos nach Lösungen sucht.
Folgt man Stone, dann ist das hier nur ein Nebenaspekt. Bei ihm gerät vor allem ein „normaler“ Scheidungskrieg völlig außer Kontrolle. Dabei wird die Disposition einer Frau, zum Ausgangspunkt für eine Tragödie, mit der (hier) niemand wirklich rechnen konnte. So wie man sie hier kennengelernt hat, hätte sie wohl eher versucht, einen politischen Skandal auszulösen und ihrem Ex das Leben zur Hölle zu machen. Das Attentat beim Hochzeitsbankett und der Amoklauf an der Tankstelle sind jedenfalls recht unwahrscheinliche Auswüchse dieser Beziehungstragödie. Medeas (und Jasons) Vorgeschichte in Kolchis (samt Hochverrat durch Diebstahl des Heiligtums und Brudermord) geraten hier völlig aus dem Blick. In der Oper ist diese Vorgeschichte latent vorhanden, wird in den meisten Inszenierungen durch Medeas fremdartige äußere Erscheinung auch sichtbar. Diesmal nicht. So fällt denn auch ihre Wahnsinnstat vor allem auf sie selbst zurück.
In der Ouvertüre klingt Cherubinis Musik noch verblüffend nach „Freischütz“. Allerdings täuscht die Popularität von Webers Oper hier die Nachgeborenen, denn Cherubinis „Médée“-Version des schon damals oft für die Bühnen genutzten Mythos‘ stammt schon aus dem Jahre 1797. Und sie war ein Echo auf die Brutalität und die Blutbäder, die die Große Revolution der Franzosen in ganz Europa fand.
Thomas Hengelbrock wird am Pult der Wiener Philharmoniker, die ihrem Ruf als Spitzenorchester auch in dieser französischen Melange, die auch an Gluck, Beethoven und Berlioz erinnert, voll und ganz gerecht. Als Hausorchester der Festspiele ohne jedes Problem mit der Akustik des Großen Festspielhauses, mit einem dramatischen Feuer, das aus souveräner Gelassenheit erwächst.
Die russische Sopranistin Elena Stikhina singt tapfer und erfolgreich gegen die wohl unbewusst für jede Interpretin der Rolle lauernde Blockierung durch die Über-Medea des vorigen Jahrhunderts Maria Callas an, ohne die Figur bei ihren Ausbrüchen ins Übermenschliche zu treiben. Pavel Černoch ist ein smarter, betont pragmatischer Jason. Nicht nur er könnte mit seinem Habitus ohne weiteres in der TV-Serie „Vorstadtweiber“ auftauchen. Vitalij Kowaljow ist ein stimmlich hochpräsenter Créon – optisch aus der Rubrik Durchschnittspolitiker, Alisa Kolosova eine warmherzige Néris, der wohl jeder seine Kinder anvertrauen würde. Rosa Feola behauptet ihre Dircé tapfer gegen die Machogesellschaft, in der sie auch nur eine Schachfigur ist.
Im Detail funktioniert diese TV-Medea. Schaut man bei der Vergegenwärtigung aber genauer aufs Ganze, so geht Stone dann doch allzuoft seinem TV-Realismus in die Falle. Ein packender Opernabend ist es gleichwohl.