„Die Musik schwebt dort in der Luft“, schrieb Hector Berlioz 1865 über Berlin. Der vor 150 Jahren verstorbene Franzose, der seine wegweisende Orchestrationslehre dem Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. widmete, wurde mit dieser Schrift und visionären Werken zum Vater des modernen Orchesters.
Das diesjährige Musikfest Berlin nahm seinen Todestag zum Anlass, Berlioz-Schöpfungen zu präsentieren und einen Blick auf die Nachwirkungen zu werfen. Fulminant war die Eröffnung mit der selten gespielten Oper „Benvenuto Cellini“, unter John Eliot Gardiner mit dem Orchestre Révolutionnaire et Romantique und dem Monteverdi Choir halbszenisch dargeboten. Man staunte über die musikalische Originalität und die außerordentlichen Klänge von 4 Fagotten, 4 Harfen und der prominent eingesetzten Ophikleide. Vier Fagotte verwendete Berlioz auch in seiner dramatischen Symphonie „Roméo et Juliette“, um der Totenklage eine ganz eigene Farbe zu verleihen.
Berlioz hat sich in seinem „Grand Traité d’instrumentation“ eine Klangfarbenvielfalt erträumt, wie sie dann Richard Strauss, Edgar Varèse, Olivier Messiaen und Iannis Xenakis verwirklichten. Messiaens groß besetzte letzte Komposition „Éclairs sur l’Au-delá“ dirigierte der zum ersten Mal mit seinem London Symphony Orchestra in Berlin gastierende Simon Rattle in der ausverkauften Philharmonie. Während Messiaen mit „Éclairs“ eine spirituelle Meditation schuf, hat Alfred Schnittke mit seiner Symphonie Nr. 1 Schockwirkungen intendiert. Zu Beginn bediente bei vollem Saallicht nur ein einsamer Perkussionist die Glocken. Allmählich traten weitere Mitglieder der Münchner Philharmoniker hinzu, zuletzt Valery Gergiev mit der Partitur in der Hand. Er beendete das Chaos, gab das Zeichen für einen gemeinsamen Einsatz. Die Fortsetzung mit scharfen Schnitten zwischen Geräuschen, Jazzimprovisation und Klassikzitaten wirkte immer noch originell. Gab es 1974 bei der sowjetischen Uraufführung noch einen Skandal, so jetzt starken Beifall.
Helmut Lachenmann hatte einmal erklärt, aus neuen Kompositionen entstünden neue Orchester. Er selbst hatte mit seinen Werken etwa ab 1970 die orchestrale Klangpalette um feine Geräusche erweitert, zugleich auch um die „normalen“ Klangfarben beschnitten. Gerade Ungewohntes betrachtete er als schön. Dem breiten Publikum sind allerdings Werke wie „Tanzsuite mit Deutschlandlied“ und „Mouvement (– vor der Erstarrung)“ immer noch wenig geheuer, weshalb die beiden Konzerte mit diesen Kompositionen schlecht besucht waren. Mittlerweile wurde das Ungewohnte zum verbrauchten Material. Lachenmann hat sich deshalb in den letzten Jahren wieder dem einst verpönten „schönen Klang“ und der Tonalität zugewandt. In einem Konzert des Ensembles Musikfabrik erklang seine neue Klavierkomposition „Berliner Kirschblüten“, welche notengetreu Paul Linckes „Berliner Luft“ aufgreift. Es folgte der ebenso triviale „Marche fatale“, der erst gegen Ende durch Anklänge an Ravels „La Valse“ und nachhallende Bass-Cluster ins Katastrophische umgebogen wurde. Während Lachenmann bei seiner „Tanzsuite“ die Hörer überforderte (trotz der Hörhilfen, die er einleitend gab), unterfordert er sie mit seinen jüngsten Werken. Nur deshalb hört man hier Vertrautes neu, weil es als Lachenmann-Komposition daherkommt.
Den ausführlichen Besetzungsangaben in den Programmheften konnte man entnehmen, inwieweit neue Stücke jeweils die orchestrale Norm sprengten. So bewegte sich „let me tell you“ für Sopran und Orchester von Hans Abrahamsen mit der fabelhaften Barbara Hannigan trotz des umfangreichen Schlagzeug-Apparats noch im Rahmen des Üblichen. Dagegen hat Louis Andriessen am Beginn seiner Laufbahn Konzertsäle eher gemieden. Die Orientierung an Freiluftmusik für Bläser war noch seiner 1985 entstandenen streicherlosen Komposition „De Stijl“ anzumerken. Auch in seinen „Mysterien“ (2013), vom Concertgebouw Orkest Amsterdam unter Tugan Sokhiev zur deutschen Erstaufführung gebracht, dominierten Blas- und Schlaginstrumente; Klangblöcke aus in sich kreisenden Bewegungen veränderten hier langsam ihren Dissonanzgrad. Während diese Prozesse faszinierten, enttäuschte die europäische Erstaufführung von Andriessens Komposition „The Only One“ (2019) für Jazzsängerin und großes Ensemble, welche auf Texte von Delphine Lecompte verschiedene Genres zwischen E und U, Kinder- und Erwachsenenwelt, Ironie und Verfremdung mischte, ohne eine klare Position erkennen zu lassen.
Wie Andriessen, betont auch Peter Eötvös seine Unabhängigkeit von jeder Schule, nicht zuletzt von der frühen Darmstädter Schule. Komponieren ist für ihn ein spontaner, quasi improvisierter Vorgang. So ließ er sich 2018 in seinem Violinkonzert „Alhambra“ von dem gleichnamigen Palast in Granada inspirieren, welcher spanische und arabische Traditionen vereint. Es ist ein imaginierter Gang durch dieses verwunschen wirkende Gebäude. Die Geigerin Isabelle Faust begann unbegleitet mit dem Ton g, dem ersten Buchstaben von „Granada“. Weitere Tonfolgen hatte der Komponist aus dem Wort „Alhambra“ hergeleitet. Helle Farben, etwa in der Kombination von Harfe und Piccoloflöte oder hoher Trompete mit Celesta, dominieren in diesem durchsichtig instrumentierten Werk. Peter Eötvös am Pult der Berliner Philharmoniker sorgte für eine exzellente Aufführung in einem aparten Programm, zu dem noch „Shaar“ von Xenakis und „Amériques“ von Varèse gehörten. Eötvös, der schon lange eine Vorliebe für Japan hat, präsentierte auch in „Secret Kiss“ für Erzählerin und Ensemble (2018) die Faszination des Fremden. Das Melodram handelt vom Verbergen der Gefühle; weder die steif und ernst auftretende No-Darstellerin Ryoko Aoki noch die ebenso ritualartige Musik ließ sich irgendwelche Emotionen anmerken. Dagegen kehrte der Komponist 2006 in seiner „Sonata per sei“ für zwei Klaviere, Sampler-Keyboard und drei Schlagzeuger, ebenfalls dargeboten vom Ensemble Musikfabrik, zu seinen ungarischen Wurzeln zurück. Es ist eine Hommage an Béla Bartók, angelehnt an dessen Konzert für zwei Klaviere, Schlagzeug und Orchester.
Kompositionsaufträge großer Orchester können den ihnen gewidmeten Werken oft ihren Stempel aufprägen. Dem wich Olga Neuwirth in ihrem Trompetenkonzert „…miramondo multiplo…“, einem Kompositionsauftrag der Wiener Philharmoniker, bewusst aus, indem sie auf Traditionen zurückgriff, die diesem Orchester eher fremd sind, nämlich Jazz und Musical. Zur Darstellung der „vielgestaltigen Welt“ zitierte sie eine bekannte Musical-Melodie und eine ebenso bekannte Händel-Arie. Eine dazwischen eingelagerte „kaltblütige Arie“ wiederholte Formeln mechanisch. Leider verwendete auch der Schlusssatz, betitelt „Arie des Vergnügens“, Formeln, jetzt solche der Barockmusik, ohne wirklich zu überzeugen. Origineller wirkte die Antwort der Komponistin auf den Auftrag der Londoner Proms, mit einem neuen Werk auf Bachs Brandenburgische Konzerte zu reagieren. Der Gedanke der Autorin Colette, Bach klinge manchmal wie eine göttliche Nähmaschine, regte Neuwirth an, in ihrer Komposition „Aello – ballet mécanomorphe“ neben einer Soloflöte, zwei Trompeten und einem Streicherensemble auch Synthesizer und Schreibmaschine zu verwenden und das rhythmische Gerippe der Vorlage witzig zu verarbeiten.
Einen scharfen Kontrast dazu bildete bei diesem von Susanna Mälkki dirigierten Konzert der Karajan-Akademie der Berliner Philharmoniker die letzte Komposition von Gérard Grisey, „Quatre chants pour franchir le seuil“ (1998), ein Totengesang zwischen Stille und apokalyptischen Trommelausbrüchen, der sich als universale Botschaft an die Menschheit verstand. Viel intimer und schlichter, aber nicht weniger eindrucksvoll wirkte Wolfgang Rihms „Vermischter Traum“ (2017) für Stimme und Klavier auf Texte von Andreas Gryphius. In diesem ersten Stück Rihms nach einer krankheitsbedingten Kompositionspause, jetzt uraufgeführt mit dem Bariton Georg Nigl, ließ besonders der Mittelteil, der den Weg vom Leben in den Tod durch immer leiseren und stockenderen Gesang wiedergab und in Stille einmündete, aufhorchen.