Als Beethoven zurück auf diese Welt kam, sah er den Sockel, auf dem er lange als Säulenheiliger versteinert war, auf dem Schrotthaufen der Geschichte errichtet – visuell formulierten dies 1969 Josef Beuys und Mauricio Kagel im Film „Ludwig van....“, und der wollte die Antwort der zeitgenössichen Kunst liefern auf den bürgerlichen Anspruch, große Musik zu musealisieren und zur Ware zu verdinglichen. Kompositionen, die zum Zeitpunkt ihrer Uraufführung musikalischen Fortschritt atmeten, wurden Tapete und zum Einrichtungsgegenstand – etwa so ähnlich, wie Kagel und Beuys das Beethovensche Notenmaterial zerschnipseln, also dekonstrurieren, um daraus Papiermöbel zu basteln.
Jenes cineastische Lehrstück, das lange vor dem Zeitalter der Vereinnahmung von Musik durch Handy-Klingeltöne entstand, führt in Münster einem Publikum vor Augen, was die gegenwärtig aufgeführte Musik eben nicht will – um beim Klangzeit-Festival stattdessen zehn Tage lang vielfältige Wege zu finden, das zeitgenössische Musikschaffen von den spezialisierten Elfenbeintürmen herunter zu holen. Wenn Staunen und Kinderlachen die Folge von Vinko Globokars absurden Späßen auf der Posaune bei dessen samstäglicher Soloperformance waren, dann kam hier die Musik sehr direkt zu den Menschen – und das zuweilen an sehr ungewöhnlichen Plätzen. Aufführungsstätte waren neben der veranstaltenden Musikhochschule ein freies Theater, ein Soziokulturzentrum, ein Lichtspielhaus, aber auch ein Hallenbad, in dem die Musiker von Partita Radicale schließlich sogar mit ihren Instrumenten ins Wasser gingen, was musikalisch gesehen zwar eher beliebig blieb, aber dafür mit einem erfrischenden Event-Charakter der Gesamt-Veranstaltung nicht ungelegen kam. Das in seiner Komplexität anspruchsvolle Motto „Erzählende Musik“ verlangte also eine durchdachte Ausgestaltung, bei der sich das Verhältnis von Wort und Musik in vielerlei semantischen und expressiven Aspekten als kreative Chance auftat. Helmut Oehring nutzte sie gleich am Anfang sehr treffsicher in seinem uraufgeführten Werk „Im Dickicht der Zeichen“. Sein Ensemble „Wire-Works“ wagte sich in unverbrauchte Ausdrucksdimensionen vor mittels einer Gebärdensprache, die zur künstlerischen Chiffre erhoben wurde. Wie kaum sonst jemand ist der aus Köln stammende Komponist dafür prädestiniert, denn die Gebährden seiner taubstummen eigenen Eltern waren seine primäre Sozialisationsinstanz.
Ganz andere Wege geht Carola Bauckholt, die sich vom sinnhaften Gehalt der Worte gelöst hat, um gleichzeitig das Geräusch zur zentralen kompositorischen Quelle zu erheben. Anders als in der music concrete, wirkten in Münster etwa der Klang einer rollenden Kugel, oder das Schaben auf Holz und Blech nicht aus sich selbst heraus, sondern rückten in den Kontext eines spielerischen Miteinanders, vor allem seitens der drei hervorragenden Cellisten des Cellotrio Blu, bestehend aus Ulrike Zavelberg, Tobias Moster und Caspar Johannes Walter.
Sprache von jeder Semantik zu entkleiden, um diese zum Klangmaterial zu machen, wie dies auch die niederländische Sängerin Triuke van der Poel in Bauckholtes Kompositon vorgeführt hatte, das war Anfang des 20. Jahrhunderts im Umfeld der Dadaisten und Lautpoesie-Schöpfer zu einer regelrechten Mode geworden – der Niederländer Jaap Blonk brachte etliche Kostproben davon sehr mutig und gleichzeitig höchst unterhaltsam zu Gehör, wenngleich Kurt Schwitters berühmte Ur-Sonate, jenes zentrale Werk einer vermusikalisierten Laut-Poesie nur in Auszügen eine von grotestker Mimik begleitete Neuinterpretation erführ. Überhaupt leistete sich die dritte Ausgabe der im Biennale Rhythmus veranstalteten Klangzeit klug gewählte Ausblicke auf zeitlose Klassiker aus musikalischer Moderne und Avantgarde. Hans Werner Henzes „El Cimarron“ beeindruckte als höchst suggestiver rezitativischer Bogen, in dessen Zentrum der Sänger / Rezitator Paul Yoder, Bariton in höchst eindringlichem Sprachgestus, die Flucht aus der Sklaverei, deren Überwindung und den schließlichen resignativen Übergang in die kapitalistische Ausbeutung erfahrbar machte. Dazu schöpften der überragende Perkussionist Mircea Adelaneu sowie Flötist Robert Aitken und der Festival-Kurator Reinbert Evers an den Gitarren aus Henzes aleatorischem Kompositionsverfahren viele atemberaubende, kommentierende Gesten.