Ein Bühnenweihfestspiel im engeren Sinne ist Richard Wagners „Parsifal“ schon lange nicht mehr. Selbst in Bayreuth hat es diese Phase einer von Ehrfurcht und religiöser Andacht geprägten Lesart lange hinter sich gelassen. Spätestens seit sich Christoph Schlingensief seiner bemächtigt hat und dann Stefan Herheim eine deutsche Geschichtsstunde daraus gemacht hat. Auch die vorletzte Inszenierung von Uwe Eric Laufenberg hatte damit nichts mehr zu tun, obwohl sie sakrale Räume zitierte. In der aktuellen Hügel-Inszenierung ist „Parsifal“ sogar ein Versuchsfeld für eine neue Dimension der Rezeption mit Hilfe von AR-Brillen. Seit die Inszenierung von Wagners letztem Werk nicht mehr auf Bayreuth beschränkt ist, wäre jede ästhetische Kanonisierung als Kunstgottesdienst eh sinnlos. Interessanter wird es da schon, die religionskritischen Ansätze aufzuspüren – was in Bayreuth in dem Finale der unterschätzten Laufenberg-Inszenierung oder beispielsweise Tatjana Gürbaca in Antwerpen exemplarisch gelungen ist …

Auf dem Bild: Bettina Ranch (Kundry). Foto: Matthias Jung
In Essen ist Parsifal bei Roland Schwab allein zu Haus
Auch Roland Schwab, der sich mit seinem „Lohengrin“ in der Salzburger Felsenreitschule und dann mit „Tristan und Isolde“ bei den Bayreuther Festspielen Schritt für Schritt durch Wagner arbeitet, darf man solche Intentionen unterstellen. Beim rituellen Kern der Gralsenthüllung nimmt er quasi die Position des reinen Toren Parsifal ein. Er blickt mit ihm von außen auf das Ritual, das die Ritter ihrem König abtrotzen. Und versteht nicht, was er sieht. Auch wir sehen kein Gralsgefäß – beim „zum Raum wird hier die Zeit“ blicken Gurnemanz und Parsifal nur staunend zu uns in den Saal. Was man aber sieht, ist ein wie ans aufgerichtete Bett gekreuzigter König, der gewaltig (über Schläuche, die sich von der Decke herabsenken) zur Ader gelassen wird. Was mit dem Blut geschieht, weiß man nicht. Zu den Rittern gelangt es offensichtlich nicht. Denen genügt das „Als-Ob“, das die christlichen Rituale begleitet und die das dahinter stehende Menschenopfer und dessen Verzehren in verwandelter Form für die Gläubigen erträglich und handhabbar machen. All das wird hier nicht denunziert, aber doch verdeutlicht. Und ob es so gemeint ist oder nicht: in der Analyse liegt eine Kritik, die die Absolutheit von Glauben relativiert.
Bei Roland Schwab und seinem Bühnenbildner Piero Vinciguerra liegt der Gral hinter einem betörend schönen Wald. Den durchwandert Parsifal im Video von Ruth Stofer, das während des Vorspiels bühnenportalfüllend projiziert wird. Er landet an einem leicht gebogenen Tunnel, der offensichtlich unbeabsichtigt unter Wasser steht. Den von Parsifal erlegten Schwan bringen sie gleichwohl aus der Tiefe des Tunnels nach vorn. Ein realistisches Bauwerk ist das also nicht, sondern ein metaphorisch assoziativer Raum. Hier wankt denn auch eine ziemlich desolate Truppe von Alt-Rittern mit Gehilfe ans Licht. Beim der Gralsritual genügt ihnen der purer Anblick dieser Prozedur offenbar als Frischzellenkur.

Auf dem Bild: (v.l.) Bettina Ranch (Kundry), Almas Svilpa (Klingsor). Foto: Matthias Jung
In Klingsors Zaubergarten sorgt ein Dickicht aus wuchernden Pflanzen und Bildschirmen für ein Changieren zwischen der Opulenz einer Kunstinstallation und Distanz ihrer Bedeutung. Wenn Parsifal Klingsor den Speer einfach wegnimmt, verschwindet dessen Reich in der Versenkung. Wenn er dann am Beginn des dritten Aufzuges jetzt noch einmal mit Gasmaske durch einen apokalyptischen Wald (im Video) zum Gralstunnel wandert, hat er den Speer dabei. Der Tunnel ist jetzt mit Schrott übersät. Vorne links ist die Rückseite eines angeschimmelten Kleiderschranks zu sehen, an der Gurnemanz den Schriftzug WAHNFRIED angebracht hat. Die Lösung des Gralsproblems, die Todes- und Erlösungssehnsucht von Amfortas und Kundry wird hier zur Auflösung. Kundry altert im Zeitraffer und sinkt vor dem sich zerlegenden Schrank zu Boden. Während sich alle anderen auf und davon machen und der lädierte Tunnelüberbau, der an einen Käfig erinnert, in die Höhe entschwindet. Parsifal bleibt am Ende allein. Zu Haus?
Jeder „Parsifal“ auf der Welt ist natürlich zunächst einmal ein musikalisches Großereignis und eine Herausforderung für jedes Orchester, das sich auf dieses für Bayreuth maßgeschneiderte Opus einlässt.
Die Essener Philharmoniker müssen sich da jedenfalls nicht fürchten. Den Vorgänger-„Parsifal“ mit dem dirigierenden Intendanten Stefan Soltesz am Pult inszenierte Joachim Schlömer 2013. In Essen hat auch der Teil des aktuellen Publikums, der nicht nach Bayreuth pilgert, einen Vergleich. Und die Musiker eine entsprechende Erfahrung. Der amtierende Essener GMG Andrea Sanguineti brauchte (in der nahezu ausverkauften Vorstellung am 30. März) für den 1 Stunde 47 Minuten für den ersten Aufzug, setzte damit also weder mit betont forciertem Tempo noch mit übermäßiger Langsamkeit auf Originalität. Gleichwohl wirkte das Orchester, aufgehellt, transparent und zupackend. Hier war niemand auf einen Weiheton aus, der narkotisieren sollte. Die Musik blieb dem Wort immer treu an der Seite. Der Strom der Klänge, der Sound war in seiner Ruhe und inneren Spannung gleichwohl mitreißend, auch wenn man sich die klagenden Töne im Orchester auch noch eindringlicher und die Gralsglocken noch wuchtiger vorstellen kann. Wer einen geschmeidigen Zusammenklang und die Faszination großer Bögen bevorzugt, kommt in Essen voll auf seine Kosten.

Auf dem Bild: Opernchor und Extrachor des Aalto Musiktheaters. Foto: Matthias Jung
Zumal auch, neben dem von Klaas-Jan de Groot präzise einstudierten Chor ein Protagonisten Ensemble beisammen ist, das sich in diesem Klangstrom nie bedroht ist. Sebastian Pilgrim ist als Gurnemanz-Fels in der Brandung kein Rechthaber und Alleswisser, sondern einer, der die Schmerzen von Amfortas Wunden sichtbar nachvollziehen kann und seinen Anweisungen schon mal Nachdruck verleihen muss. Seine Stimme hat Nachdruck und ein angenehmes Timbre zudem eine Diktion, die auch auf der Langstrecke nicht langweilt. Nicht weit davon entfernt ist Heiko Trinsinger, der allerdings als Amfortas besonders seine Verzweiflung durchweg gestaltend beglaubigt. Leider fehlt Karel Martin Ludvik als Klingsor (als Zweitbesetzung neben Almas Svilpa) jede vokale Dämonie für seine Rolle. Da wirkt auch seine besonders extravagante Kostümierung nichts. Bettina Ranch hingegen ist nicht nur eine zupackend verführerische, sondern auch stimmlich exzellente Kundry. Ihr gellender Schrei bleibt an der Stelle wo er hingehört, wenn sie singt, liefert sie ein Musterbeispiel von kultivierter Erregtheit oder Verzweiflung. Wenn man den Umgang mit den Vokalen als Eigenwilligkeit akzeptiert, dann liefert Robert Watson einen wohlklingenden, fokussierten Parsifal mit Potenzial. Die Blumenmädchen sind durchweg purer Luxus.
Alles in allem hat Essen einen neuen „Parsifal“, der musikalisch suggestiv, bildmächtig und assoziationsoffen in einem ist! Mehr geht kaum.
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