Die eskalierende Gewalt lässt uns verstummen. Und zwar nicht nur die in den Kampfzonen. Auch wenn das allein schon völlig ausgereicht hätte, uns illusionslos, in jeder Hinsicht ratlos zurückzulassen. Ein 43‘-Screening der Geschehnisse am 7. Oktober 2023 hat den Blick in einen Abgrund geöffnet und das sarkastische Wort Arnold Schönbergs, wonach man auch die „Menschenfresserrechte anerkennen“ müsse, vollkommen bestätigt. Mit dem Oktoberpogrom als antisemitischem Schlachtfest ist die Büchse der Pandora aufgegangen. Seitdem kann nichts mehr „unabhängig überprüft“ werden, was bedeutet, dass sich jeder aus der Nachrichtenlage heraussucht, was ihm gefällt, wobei jeder zugleich auch weiß, dass die Maschinerie der Vergeltung, dass die Logik der Kriegsführung das Auseinanderhalten von sogenanntem Defensivem und Offensivem, von Reagieren und Agieren zu einem hoffnungslosen Geschäft macht. Soweit, in aller Kürze, zum Realgeschehen.
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Stefan Litwin: „Menschlichkeit“ für Stimme und Klavier (2024)
Et in terra pax
Dabei allerdings ist es nicht geblieben – wie ebenfalls jeder weiß und, je nach dem Grad der eigenen Beteiligung an sogenannten sozialen Netzwerken, auch zu spüren bekommt: Man muss von einer Ausweitung der Kampfzone sprechen. Im Internet hat man die Frontlinien nachgestellt, neue errichtet. Seitdem tobt auch dort die Schlacht. Künstlerkreise inbegriffen. Längst ist das ein unheimliches Terrain geworden. Was einem die Sprache verschlägt, ist das Gebaren einer aktivistisch aufgeladenen, globalen Kunstszene wie sie sich bald nach dem Hamas-Überfall, an dessen Anfang die Attacke auf ein Musikfestival stand, formiert hat. Meistens anonym. In jedem Fall wild entschlossen zu markieren, zu denunzieren. Die Absicht im Namen erkennbar. „Index of Cultural Institutions & Collectives’ Stance Towards The Current Palestinian Liberation Movement“.
So nennt sich ein seit einem Jahr abrufbares Google-Tabellendokument, zugänglich über einen Instagram-Account, der tatsächlich sein will wie er heißt: Index. Ein Pranger also. Glaubenseiferer aller Couleur haben so was schon immer im Angebot gehabt. Die römische Inquisition gilt als Ersterfinder. „Index librorum prohibitorum“, das „Verzeichnis der verbotenen Bücher“, listete, was Katholiken nicht lesen durften; das „Lexikon der Juden in der Musik“, die NS-Version, was gute Deutsche nicht hören durften.
Zwischen Pranger und Sprachlosigkeit
Nicht anders funktioniert der „Index.Palestine“. Gelistet eintausend Kulturinstitutionen aus aller Welt, gecheckt auf deren Haltung zum „Palestinian Liberation Movement“, zur sogenannten „palästinischen Befreiungsbewegung“ wie der camouflierende Ehrentitel heißt für diejenigen, die ihrem Judenhass in einer Lustorgie der Grausamkeit freien Lauf gelassen haben. Eine mehrstufige Klassifikation der Indizierer erhebt die Guten in den Parnass: „Support“ für Israel-Ankläger, verstößt die Bösen in den Orkus: „Pro-Zionist“ für Israel-Unterstützer. „recording&monitoring“ nennen die Volksaufklärer, die Propagandisten, die Label-Verteiler ihr Treiben. Dem Königlichen Konservatorium von Schottland in Glasgow haben sie einen Tadel-Eintrag verpasst. Man habe unschuldige Opfer betrauert, aber unterlassen, Israel anzugreifen. Die Wiener Festwochen erhalten die Höchststrafe, bekommen den Judenstern angeheftet. Begründung: Ein Post auf Instagram, in dem der „terroristische Überfall der Hamas“ genau so genannt wird.
Der Kasus verrät die neue Qualität. Was nach dem islamistischen Terrorangriff auf die Pariser Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo mit zwölf Toten im Januar 2015 noch möglich war – binnen kurzem „Je suis Charlie!“-Transparente, die die hiesigen Stadtbilder prägten –, was nach dem Beginn des Ukraine-Krieges ebenfalls noch möglich war – im Frühjahr und Sommer 2022 europaweit Stimmen der Solidarität, artikuliert in Kunst- und Musikinstitutionen, in Künstler- und Musikerkreisen und auch, wenngleich dazu viel Mut und noch mehr Intelligenz gehörte, bei diesem, bei jenem Gegenwartskomponisten –, all das ist, in dieser Form, verschwunden. Ein Jahr Krieg in Nahost hat die Sprachlosigkeit potenziert. Auch in den Künsten.
Die letzte Theaterarbeit des im Februar 2024 verstorbenen Berliner Volksbühnen-Intendanten René Pollesch hat dafür nachdenkliche Worte gefunden: „Früher konnte man in der WG eigentlich über alles sprechen, jeder mit jedem, jetzt konnte man immer noch über alles sprechen, aber nicht jeder mit jedem, etwas hatte sich verschoben.“
Wie weiter?
Ohne eine, auch sonst eigentlich immer zu empfehlende Sekundärtugend wird es, so steht zu vermuten, kaum weitergehen können. Sofern die beschriebene Situation ausgeweiteter Kampfzonen zutreffend ist, wäre als Minimalmoral ein Nichttun, ein Unterlassen abzuleiten. Unterbleiben sollte jede Form des Aktivismus. An seine Stelle hätten Fragen zu treten: Ist das, was ein 24. Februar, ein 7. Oktober uns beschert hat, überhaupt ein Thema, das ein Komponist von Kunstmusik verantwortlich angehen kann? Und, wenn ja, wie? – Fragen, die auf eine Art Erhebung hinauslaufen, wie ich sie unter Komponisten angestellt habe, die sich, das war mein wichtigstes Kriterium, immer noch oder trotzdem imstande sahen und sehen, den schrill hallenden Echokammern künstlerische Äußerungen entgegenzusetzen. Nicht jeder konnte oder wollte darauf eingehen, was man respektieren muss. Manchen hat es tatsächlich die Sprache verschlagen bis zum Verstummen. Bei den hier ins Gespräch gebrachten Künstlern war und ist das anders. Vier Komponisten, deren Herkunftsorte ein Trapez ergeben, ausgespannt über den Globus: Santiago de Chile, Mexiko, Tel Aviv, Warschau. Zygmunt Krauze, Eres Holz, Stefan Litwin, Juan Allende-Blin waren bereit, so gut es ging, mit Worten zu sagen, was man nicht mit Worten sagen kann, wofür es ja sonst keine Musik bräuchte und womit an dieser Stelle schon einmal eine erste Antwort auf die eben aufgeworfenen Fragen festzuhalten wäre: Gesprächsbereitschaft. Es gibt noch eine Zweite. Die steht dann am Ende.
Juan Allende-Blin: „Por el cielo vacío / Durch den leeren Himmel“
„Es ist ein Echoraum. Das prallt in meiner Seele und dann muss ich was komponieren. Das braucht nicht eine Übertragung dieser Ereignisse, sondern das landet als Impakt bei mir und ich gebe es zurück mit Klängen. Vieles läuft über das Unbewusste. Ich komponiere sehr oft, indem ich träume von meinem Stück, das im Entstehen ist. Und da finde ich die meisten guten Lösungen. Ja, so arbeite ich.“
Für Juan Allende-Blin, Jahrgang 1928, reichen die Horizonte weit zurück, sind die aktuellen Katastrophen verknüpft mit zurückliegenden, noch kaum verarbeiteten, wobei ein 24. Februar bei ihm durchaus gemischte Gefühle auslöst. Dass der Tag, an dem Russland den Krieg gegen die Ukraine auslöste, ausgerechnet der Geburtstag des Komponisten ist, ist nun tatsächlich eine jener Ironien, mit denen Geschichte uns zu überraschen pflegt.
Das Datum erinnere ihn, so Allende-Blin im Programmheft zum Essener Folkwang-Konzert, an das Jahr 1936, „als Francisco Franco mit Hilfe Nazideutschlands die spanische Republik überfiel“, Federico Garcia Lorca ermordete und im Folgejahr 1937 Guernica in Schutt und Asche legte, „die Stadt aus der väterlicherseits meine Familie Salazar de la Torre de Allende stammt“. – Das sind die Bezüge, die Hintergründe. Sehr nachvollziehbar also, dass das Echo der jüngsten Geschehnisse als „Impakt“, wie es der Komponist ausdrückt, sich dieses Materials bedient.
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Juan Allende-Blin: „Por el cielo vacío / Durch den leeren Himmel“ (2024) Kantate für Bariton, Flöte, Altsaxophon, Bassklarinette, Klavier, Schlagzeug nach dem Gedicht Ruina von Federico García Lorca, Edition Gravis Verlag.
„Durch den leeren Himmel“, die 2024 entstandene, vom Essener E-MEX Ensemble mit dem Gesangssolisten Thomas Bonni uraufgeführte Kantate ist die Vertonung des Gedichts Ruina von Federico Garcia Lorca, für den Komponisten, den gebürtigen Chilenen mit spanisch-französischen Eltern, eine feste Größe seines Musikdenkens. „Por el cielo vacío / Durch den leeren Himmel“ ist Quintessenz eines gereiften, zugleich spannungsgeladenen, jede Geste, jede Note verantworteten Komponierens, dem das Ohr in jedem Moment bereitwillig folgt. Aufgefächert eine erweiterte Palette der Ausdrucksformen. Beim Solisten – Pfeifen, Summen, Singen, Sprechen – wie bei den Instrumenten etwa im Fall der für den Komponisten so typischen Tennisbälle im Innenraum des Klaviers. Das alles legt sich mit weitem Atem über die Partitur, erzeugt ein elektrisches Feld. Jede Stimme, jedes Geräusch strahlt mit ihrer je spezifischen Aufladung ab auf die Umgebung, überlagert sich mit anderem zu einem vibrierenden Echoraum.
Stefan Litwin: „Menschlichkeit“
„Ich kann eigentlich nur sagen: Es gibt Grenzen der politischen Realität, auf die ein Komponist überhaupt musikalisch reagieren kann. Das Problem des Reagierens auf politische Dinge ist die Gefahr, dass Gewalt auch ästhetisiert wird.“
Stefan Litwin, als Pianist wie Komponist seit Jahren gleichermaßen exponiert mit Exzellenz. Hier wie dort zu Hause im künstlerischen Echoraum expressiver Intensität wie ihn Hanns Eisler, Stefan Wolpe ausgemessen haben. Seine Haltung zum Thema: skeptisch, nachdenklich.
„Musik, auch wenn sie kritisch gemeint ist, hat immer etwas Affirmatives. Ein Komponist muss sehr vorsichtig sein, zu unterscheiden, ob eine politische Gegebenheit musikalisch reflektiert werden kann oder darf. Und ich muss auch sagen: Nicht alles, was politisch brisant ist, ist musikalisch kommentierbar, vertonbar – dafür ist die Sprache der Musik nicht stark genug. Sie kann die Dinge nicht kritisch beleuchten, so wie es die gesprochene Sprache kann, so wie wir es heute erleben, dass man Fake News von Wahrheit unterscheidet, MissInformation, Ideologie, Rassismus, also all diese Dinge. Da ist die Musik ja nicht in der Lage, das auszudrücken.“
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Stefan Litwin: „Menschlichkeit“ für Stimme und Klavier (2024)
Keine Reaktion auf den 7. Oktober?
Im Vorfeld zum Gespräch für ein Deutschlandfunk-Radiofeature erreicht mich eine Warnung. Aus seiner Sicht, so die Mitteilung des Künstlers, „verbietet sich eine direkte musikalische Reaktion auf den 7. Oktober. Denn eine jede solche käme einer Ästhetisierung des Schreckens gleich. Insofern würde ich lieber die Position eines Musikers einnehmen, dem die Situation regelrecht die Sprache verschlagen hat.“ Letzteres ist, diese Einschränkung wäre anzufügen, wohl nicht ganz richtig. Hatte Litwin für die Sendung noch seine Horaz-Vertonung für Tenor und Klavier „An die Römer“ aus dem Jahr 2022 vorgeschlagen, so kündigte er, gewissermaßen im Nachgang, einen soeben zur Welt gekommenen Zwillingsbruder dazu an, Vertonung eines Frank Wedekind-Gedichts: „Menschlichkeit“. Bis zum Bersten sarkastische Stabreime auf eine Situation, worauf man sich keinen Reim machen kann, weshalb die Worte auf dem Prokrustesbett der Partitur ausgespannt werden müssen bis zum Zerreißen. Man spürt, dass es richtig ist.
„Die Gewalt und die Entmenschlichung ist kein neues Thema. Das begleitet die Menschheit schon seit Tausenden von Jahren. Und es gab auch den Syrienkrieg. Es gibt überall Unruhe, nur waren wir nicht so nah betroffen, der Westen, ja. Wie es Celan so schön ausgedrückt hat: es wird warm in der Welt / und die Toten / knospen und blühen. Wenn man das als Alarmzeichen wahrnimmt, muss man auch künstlerisch darauf reagieren.“
Eres Holz: „DEATH“
Eres Holz, Jahrgang 1977, gebürtiger Israeli aus Rechovot nahe Tel Aviv, Sohn von aus Polen geflüchteten Eltern, seit 20 Jahren in Berlin, heute freischaffender Komponist. Seine Arbeiten werden im In- und Ausland auf Podien neuer Musik aufgeführt. Seit einigen Jahren entstehen auch Vertonungen von Celan-Gedichten, die irgendwann zu einem Madrigalbuch zusammengeführt werden sollen.
Es ist sicher kein Zufall, dass es ausgerechnet die Poesie Paul Celans ist, die den Komponisten fasziniert. Wobei man, ebenso sicher, eines wohl ausschließen kann: Nicht die angebliche Unverständlichkeit Celans, nicht seine vermeintliche Hermetik und schon gar nicht seine ihm angedichteten wirklichkeitsfernen Sprachspiele sind es, die Holz an diesem Autor interessieren. Celan selbst war es, der betont hat, dass jede Zeile, jedes Wort aus Erfahrung herkommt, von Erfahrung kündet, von der Existenz erzählt unter der Drohung ihrer Aufhebung – wie sie für ihn selbst und seine Familie in der Shoah Realität wurde.
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Eres Holz: DEATH für zwei Bassklarinetten und Live-Elektronik (2023)
Öffnen, konfrontieren, Distanz abbauen
Ein Trauma, das dem Komponisten Eres Holz gerade nach jenem 7. Oktober, an dem sich antijüdische Vernichtungsphantasien neuerlich ausgetobt hatten, wieder besonders nahe gerückt ist. Nachvollziehbar, dass er zu den selbstverliebten Spielereien, wie sie in den Szenen üblich geworden sind, noch größere Distanz empfindet als ohnehin schon.
Unter den Gegenwartskomponisten ist er es, der die Frage nach der Gewalt im künstlerischen Diskurs vielleicht am entschiedensten aufwirft, wie er zugleich am nachdrücklichsten deren Sublimierung, also das Loskommen davon einfordert. Beides hat sicherlich auch zu tun mit dem Moment der Gefährdung, der er als gebürtiger Israeli ausgesetzt ist, insbesondere seit der skandalösen Zunahme des Antisemitismus, gerade auch in linken und in Künstlerkreisen.
„Ich denke jeder Mensch muss in irgendeiner Form das Menschliche wieder als Thema zurück in die Diskussion bringen. Und das, bitteschön, auch in der Neue-Musik-Szene. Das kann man nicht weiter so machen und sich abkapseln mit Experimenten.“
Dichter ist, wer menschlich spricht, sagt Celan, womit hier mit einiger Sicherheit auch der Tondichter adressiert ist. Menschliche Annäherung, Begegnung treibt das Komponieren von Eres Holz, womit wir rückwärtsmodulatorisch die Wunschformel der Weihnachtsbotschaft berühren: et in terra pax – „und Friede auf Erden“, Lukasevangelium Kapitel 2, was Hoffnung machen will.
Aber, dass es so einfach nicht ist, das weiß nicht nur der Komponist, das wissen, spüren auch wir: die Verhältnisse „auf Erden“, sie sind nicht so. Daher kommt, dass „Pax“, dass der Friedenswunsch, den die Kirchen in ihren Liturgien aufbewahren, nicht totzukriegen ist. Was ganz klar wiederum damit zu tun hat, dass Mars, dass der Krieg, der sich stets im Frieden vorbereitet, eben auch nicht totzukriegen ist. Wird Letzterer angerufen, und auch das spürt man sofort, ist gleich noch jemand im Raum.
In „DEATH“ für zwei Bassklarinetten und Live-Elektronik (unteres Notenbeispiel) hat Eres Holz diesem steinernen Gast Klanggestalt verliehen, eine beklemmende, unangenehm nahe rückende Musik geschrieben. Eine, die tatsächlich im unmittelbaren Echoraum des 7. Oktober unter die Menschen getreten ist, uraufgeführt im Oktober 2023 im Wiener Konzerthaus, auf CD eingespielt im Mai 2024 im Deutschlandfunk Kammermusiksaal.
„Das Stück befasst sich mit Gewalt nicht im Sinne wie Krieg uns Menschen verändert, sondern wie Gewalt sich anfühlt und das ist das Thema vom Stück. Ich versuchte, auch anhand von Elektronik und Licht mit stroboskopartigen Effekte diese Gewalt mit Blitzen und Lichtveränderungen zu inszenieren. Das Stück ist sehr kalt, sehr maschinell. Also das sollte unerträglich sein, es war auch für das Publikum nicht so erträglich, aber es sollte auch so sein.“
Zygmunt Krauze: „De ira, de dolore“
„I know where I am and who I am, more or less, so I know that whatever I do it‘s has very little impact what‘s going on of the future, that’s clear. But the reason why I composed these works is just, how to say, a explosion of my anger. I had to do it, I had to do it in order to be healthy to be normal. I think that everyone who cares about the sorroundings should react. I think we should react. We should not be silent.“
Wir sollten nicht schweigen. – Es ist die Kurzformel. In Berücksichtigung aller Unterschiede, der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich vier Gegenwarts-Komponisten einigen könnten, wenn sie sich, wie auch wir, ihr Publikum, ihre Hörer, wiederfinden in den Echoräumen von Angriffskriegen, von Vernichtungsphantasien und vergifteter Verhältnisse wie wir das in einer, noch vor kurzem nicht für möglich gehaltenen Massivität erlebt haben, erleben. Was das auslöst, kann, muss nicht in die Sprachlosigkeit führen.
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Zygmunt Krauze: „De ira, de dolore“ für Elektronik und acht Instrumente (2022), PWM Edition – Polskie Wydawnictwo Muzyczne
„Ich denke jeder, den es kümmert, sollte handeln“
In „De ira, de dolore“ („Vom Zorn, vom Schmerz“, oberes Notenbeispiel) verteilt Zygmunt Krauze gehäckseltes Material über eine Partitur, die die Assoziation eines von Einschlagstrichtern übersäten Schlachtfeldes weckt. Darunter ein ostinat-waberndes Geräuschband, immer wieder unterbrochen von einer melody, die Krauze einer älteren Dokumentation von Volksgesängen aus einem Gebiet in der heutigen Westukraine entnommen hat.
Mars und Pax, Krieg und Frieden auf Kollisionskurs, was die Frage auslöst, wofür ein Komponieren steht, das auf gesellschaftlicher Verbindlichkeit beharrt, das mehr sein will als Ohrenkitzel, mehr sein will als Wohlfühlinsel einer ums Liturgische herumgebauten Mess-Vertonung.
Auf der Stuhlkante
„et in terra pax“, wie es hier steht, ist Leerstelle, ist Variable, ist Platzhalter für etwas, das noch zu leisten ist, das erbracht werden muss. Was, natürlich, anfängt, anfangen muss, anfangen müsste bei einer Mindestforderung. Eine, für die, weit noch im Vorfeld des Ersten Weltkriegs, Bertha von Suttner, die Schriftstellerin, die Friedensnobelpreisträgerin, die Kurzformel geprägt hat: Die Waffen nieder!
Das wäre ernst zu nehmen. Wäre Aufgabe von Politik. Darin, auch das kein Geheimnis, versagt sie gerade. Stattdessen geht es munter weiter im Auslösen immer neuer Eskalationsstufen, worüber wir, im Stundentakt, upgedatet werden.
Was bleibt? – Im Echoraum nicht zuletzt doch auch ein starker Konzerteindruck. Die Uraufführung von „De ira, de dolore“ im Dezember 2022 in Krakau musizierte Krauze, selbst am Klavier sitzend, mit SpóĹ‚dzielnia Muzyczna, einem der interessantesten Ensembles der heutigen polnischen Neue-Musik-Szene. Die Musiker auf den Stuhlkanten. Wo sollte man, wo sollten wir sonst sitzen?
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