Eigentlich unverständlich ist es, wenn Festivals für neues Theater und Tanz von Medien für Musik ignoriert werden. Denn gerade dort zeigen sich signifikante Impulse und praktikable Anwendungen von Musik in freiem und freiwilligem Umgang. Die euro-scene Leipzig reflektierte das neben den programmatischen Hauptsträngen vom 8. bis 13. November zum bereits 26. Mal. Leiterin Ann-Elisabeth Wolff begeisterte sich – und das Publikum stimmte ihr vollherzig zu – für den 29jährigen österreichischen Künstler Nikolaus Habjan, der nach seinem Studium der Musiktheater-Regie auf die Oper pfeift. Buchstäblich, denn er ist auch Kunstpfeifer. Dem Nestroy-Preisträger für die beste Off-Produktion 2016 und seinen Klappmaulpuppen war die Werkschau der euro-scene 2016 gewidmet.
Tänzer sind oft große Musikenthusiasten und doch scheint ihre Musikentscheidung für Eigenes mitunter unabsehbar, ja willkürlich: So die des in Rotterdam wirkenden Belgiers Jan Mertens, der mit dem Solo „Ode tot he attempt“ („Ode auf den Versuch“) auch seine Liebe zu Schubert mehr wort- als bewegungsreich referiert. In den Monolog- und Tanz-Variationen der von ihm wie in einer Lektion für das Publikum getippten und projizierten dreizehn Thesen zu einer „berührenden Choreografie“ ist „Nachtgesang im Walde“ nur eine Nummer in der Playlist. Isoliert, austauschbar, verzichtbar. Schlechte Zeiten also für Musik im Neuen Tanz? Mitnichten.
Traditionell agierte die Compagnia Zappalà Danza aus Catania, sie zelebrierte auf der großen Bühne des Schauspielhauses „I am beautiful!“. Inspiriert von einem Baudelaire-Gedicht ist es der bereits vierte Teil des Projekts „Transit humanitatis“. Roberto Zappalà verordnet seinem Ensemble meist parallele Bewegungsfolgen – hier Neoklassik, dort New Dance. Seit 2007 arbeitet er mit der Musikgruppe Laudati zusammen, die heutigen musikalischen Gestaltungsmitteln traditionelle sizilianische Volksmusik einverleibt. Die vier Herren um Piccio Castrogiovanni rocken und röhren, zum Raunen eines fast unverständlichen „Stabat mater dolorosa“ wird Melodisches bis zu vollkommener Unkenntlichkeit überlagert. Bewegungsmaterial und Musik bleiben in eher distanzierter Parallele.
Techno und Electro haben es den Kompagnien verständlicherweise angetan. Das ist auch hochsportiv nutzbar wie von Ferenc Fehér und seinen beiden Mittänzern aus Budapest, die in „Helló, Zombi!“ aus körperlichen Verschlingungen ihre Nichtexistenzen zu einem furiosen Tanzmarathon hochreißen. Den Beats trotzen sie mit ihren Bewegungen impulsive und dabei variantenreiche Energien ab. Das ist fast schon eine Paraphrase auf „Le sacre“, am Ende explodierte das Publikum vor Begeisterung.
Glanzpunkt der Compagnie Ayelen Parolin Brüssel
Die Compagnie Ayelen Parolin Brüssel in „Hérétiques“ („Ketzer“) kristallisiert Konflikte zwischen Roboterisierung und Ausbruch. Eine Originalkomposition der argentinischen Pianistin Lea Petra in „realer Musizierpraxis“ kontert dazu die menschliche Bewegungsmechanik, bei abgenommener Vorderplatte des Klaviers und damit einer Tonerzeugung an den Saiten, die stellenweise synthetisch klingt. Unregelmäßige Geräusche sind das, indes erst gegen strukturbildende Tonfolgen erkennbar werden. Doch da sind die Tänzer Gilles Fumba und Marc Iglesias längst aus der Spur, ihre anfangs synchronen Hand- und Armbewegungen aus dem Takt der in Sterilität optimierten Motorik. Die beiden Körper und Lea Petra, nahezu Teil der Choreografie, sind in Interaktion. Das gibt den repetitiv-minimalistischen Bewegungsfolgen ganz starke Spannung. Dieser exzessive Drei-Personen Einsatz wäre ein Glanzpunkt für jedes Neue-Musik-Festival.
Wuchtig wummert es auch im Tanzstück „Jordjenta“ („Erdmännchen“) mit Ingeleiv Berstad, Kristin Heigebostad und Ida Wigdel, die mit ganz viel Mut zur Hässlichkeit und langen Bewegungspausen heutige Weiblichkeitsstandards konterkarikieren. Das titelgebende Erdmännchen, nach dem ein Mann in einem Gedicht der norwegischen Gegenwartsautorin Maria Tryti Venerad sucht, gibt es nicht im Stück. Dafür ist „Jordjenta“ ein stellenweise sogar witziger Flirt mit dem Horrorgenre, allerdings ganz ohne Bezug zur Musik von Siri Schippers Skaar vom Laptop.
Werkschau für Nikolaus Habjan
Im Zentrum der euro-scene stand die Werkschau für den 29jähriger Österreicher Nikolaus Habjan. Zu sehen gab es von ihm unter anderen zwei mit dem Regisseur Johann Mausburger für das von beiden geleitete Schubert Theater Wien entwickelte Stücke: In „Schlag sie tot“ fackeln die gealterte Wagner-Diva Gisela Hering – ihr „hat der Reichskanzler 1933 persönlich die Hand geküsst“ – und der um sich knarzende Herr Berni das Altersheim „Villa Immergrün“ ab. Nach so vielen „Ring“-Karikaturen ist das eine neue Dimension, die vom weitgehend musiktheaterfernen Auditorium der Schaubühne Lindenfels hier nicht ganz so genussvoll verstanden wurde wie wohl am Wiener Volkstheater, wo die Produktion im Repertoire ist. „Schlag sie tot“ – es war in der Schaubühne Lindenfels die 174. Vorstellung seit der Premiere 2008 – gehört auch dank der doppelbödigen Georg-Kreisler-Lieder eindeutig zum Musiktheater. Manuela Linshalm für die Frauenrollen und Nikolaus Habjan sind wie verwachsen mit ihren Klappmaulpuppen und den Abgründen von deren so goldenen Wiener Herzen. Und es hat ganz innige Töne, wenn Habjan dem senilen Eis-Magnaten Hermann Diletti die sanft verhangene Stimme leiht.
Am Abschluss der euro-scene stand das Musiktheater „Doch bin ich nirgend, ach! zu Haus“, in dem sich Habjan mit Puppe – der Wanderer im Mantel mit Koffer - und der Musikbanda Franui, mit rau arrangiertem Schubert, Brahms, Mahler auf den Weg durch die Jahreszeiten und Metaphern der Ratlosigkeit macht. Es gibt ihn also wieder, einen Künstler, der mit Sensibilität, einer unspektakulären Wachheit und auf Linien der europäischen Kultur sich als Betrachter der „conditio humana“ betrachtet. Neben den Sparten, über denen er auch durch ein weit gefasstes Musikverständnis steht, das Wagner ebenso einschließt wie Georg Kreisler. Wenn die euro-scene 2016 auf ein sich abzeichnendes Mehr an Emotion in Tanz, Theater und offenen Formen schließen lässt, so ist das zu einem ganz bedeutenden Teil Nikolaus Habjan zu danken.