Unser Titelbild auf Seite 1 dieser Ausgabe zeigt in einer leicht gekurvten Anordnung sieben große Konzertflügel mitsamt den zugehörigen Pianisten. Die schwarz-weiß-bläulich getönte Druckfärbung mindert etwas den realen Eindruck: Die Eingeweide der Instrumente leuchten in der Wirklichkeit wunderbar goldenfarben. Die Farben signalisieren optisch: Ein Schatz wird hier gehoben. Das kann man ohne weiteres auf das Auditive übertragen: Aus den sieben Flügeln erklingt die neueste Komposition des Komponisten Mathias Spahlinger. Die Uraufführung im Theaterhaus Stuttgart hinterließ einen überwältigenden Eindruck.
Vor acht Jahren erhielt Mathias Spahlinger vom damals noch Süddeutscher Rundfunk genannten Rundfunksender den Auftrag, sein zu der Zeit noch in der Imagination befindliches Werk „farben der frühe“ für sieben Klaviere zu komponieren. Mehrfach musste der Konzerttermin verschoben werden. Spahlinger ist kein Schnellschreiber, das Nachdenken über das, was entstehen soll, unterbricht immer wieder den Entstehungsprozess. Spahlingers kompositorischer Ansatz lässt sich vielleicht so beschreiben: Wie kann man aus den gegebenen Klang- und Spielmöglichkeiten des tradierten Klaviers etwas heraustreiben, was einerseits nicht retrospektiv daherkommt, andererseits aber auch alle gefälligen postmodernen Gesten ebenso vermeidet wie die Verselbständigung des Geräuschhaften, mit der sich die Avantgarde gern schmückt. Fragen nach Atonalität oder Tonalität rückten an den Rand, spielen letzthin keine Rolle. Für Spahlinger war die Tonalität, wie er in einem Gespräch einmal betonte, „nie weg“. Im Zentrum seines Interesses steht die Frage, wie sich aus den vorgegebenen Klangdimensionen und Bespielmöglichkeiten des Klaviers durch entsprechende Anordnungen, Strukturierungen und Tongebungen etwas Neues, Verändertes, Hochreflektiertes gewinnen lässt. Das Klavier gewinnt eine eigene, quasi autonome Sprache, und, um zur Abwechslung einmal etwas Leichtes ins Spiel zu bringen, sei hier an die zweite Strophe eines bekannten älteren Schlagers, der vom Glück des Klavierspielers bei den Frauen erzählt, erinnert, wo das Instrument quasi zum einzig wahren Akteur erhoben wird: „Der Klang des gespielten Klavieres“ heißt es da, der dann erregend wie prickelnder Sekt sein soll. Spahlingers versiebenfachtes Klavier emanzipiert sich quasi, entfaltet einen eigenen Klang-Raum, in dem sich die unterschiedlichsten Gestaltungs- und Ausdruckselemente wie in einem Brennglas verdichten, sich wieder ausbreiten, erneut bündeln.
Es ist eine ständige Bewegung in dieser Musik von den „farben der frühe“, die ihre Farben eben auch aus der steten, äußerst gelenkigen und differenzierten Beweglichkeit der komponierten Formeln, Rhythmen und Anspielungen gewinnt. Spahlinger jongliert dabei förmlich mit tradierten kompositorischen Mustern, mit Reprise oder Orgelpunkt, streut gleichsam als Zitat Walzer- oder swingende Passagen ein, aber immer nur blitzschnell und ebenso rasch wieder ausblendend. Was den ersten Abschnitten der sechsteiligen Komposition an metrischen Verschiebungen, oft winzig nur und kaum bemerkbar, einkomponiert ist, stellt die Interpreten vor enorme Herausforderungen in puncto metrische Präzision und exakte Koordination. An dieser Stelle seien deshalb deren Namen bei der Uraufführung im Theaterhaus Stuttgart genannt: James Avery als Dirigent, dessen überwältigendes Zeit- und Tempogefühl die sieben Pianisten und deren Aktionen gleichsam bruch- und nahtlos miteinander verschweißte. Die Pianisten Axel Gremmelspacher, Peter Hoffmann, Sven Thomas Kiebler, Eun Ju Kim, Hansjörg Koch, Irmela Roelcke und Elmar Schrammel agierten atemberaubend perfekt, sie waren von James Avery aus seiner Klavierklasse ausgewählt worden.
Spahlingers „farben der frühe“ ist deshalb ein wichtiges Werk gerade in diesem Augenblick, weil es beweist, dass man auch ohne instrumentale Präparierungen oder live-elektronische Raumklangwirkungen etwas komponieren kann, was sich als aktuell bezeichnen lässt. Dass Spahlinger für sein Konzept sieben Instrumente einsetzt, darf man nicht als Effekthascherei nehmen, wie etwa bei Georges Antheils „Ballet Mécanique“ aus den Zwanziger Jahren, wo sogar acht und mehr Klaviere Dienst tun. Damit kein falscher Eindruck entsteht: Antheils Komposition, vor einiger Zeit erst beeindruckend in einem „Musik der Zeit“-Konzert des WDR aufgeführt, macht unverändert gewaltig Furore. Spahlingers Klavier-Septett will dagegen nicht äußerlich für Furore sorgen, sondern ist die Voraussetzung dafür, dass sich alle dem Klavierspiel und dem Klavierklang innewohnenden technischen, klanglich-kombinatorischen, tonfarblichen und rhythmisch-metrisch organisierten Gestaltungselemente in einer Partitur bündeln lassen. In ein Bild übertragen könnte man sagen: Spahlinger hat kein Stück für sieben Klaviere komponiert, gestenreich und ausdrucksgesättigt, sondern die sieben Klaviere haben ihm mit Hilfe der Pianisten ein gewaltiges Angebot der ihnen innewohnenden Möglichkeiten unterbreitet, das er nur aufzuschreiben brauchte: Der Klang des gespielten Klavieres! So einfach ist das natürlich nicht. Spahlingers „farben der frühe“, ein Werk auch der großen Zeitdimension – es dauert ein volle Stunde, gehören in ihrer Komplexität, der Dichte ihrer Struktur, ihrer Imaginationskraft, ihrem Klangfarbenreichtum, auch ihrem versteckten Zitat-Witz und der vitalen Energie zum Aufregendsten und Wegweisendsten gegenwärtiger Musikerfindungen.
Für die Musik unserer Zeit ist die Rückkehr Mathias Spahlingers an die vorderste „Komponistenfront“ ein einziger Glücksfall.